Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
würden seine Bilder so aussehen. Sie sah auf den Boden, der mit Blättern übersät war, die von Farbe getränkt und mit fettigen Flecken bedeckt waren. In einer Ecke des Zimmers lag ein Haufen Kleider, ein einziges Durcheinander. Abgesehen von dem vergilbten Kühlschrank und dem nach Schweiß riechenden Bett gab es in diesem Raum keine Einrichtung. Nichts konnte ihre Aufmerksamkeit von den Bildern an den Wänden ablenken, von den misshandelten, gekreuzigten Gestalten, die dort geschunden und zerfetzt wie festgenagelt waren und ihr entgegenschrien.
Die Gequälten und Gepeinigten erzählten dem Betrachter keine Geschichte, sie waren einfach nur da und schlugen jeden in ihren Bann, der sie anschaute. Apryl fühlte sich, als hätte eine Faust ihr dieses ganze Grauen ins Gesicht geschleudert. Sie war benommen, aber gleichzeitig erkannte sie sich in diesen Bildern wieder. Es war, als wären die schlimmsten und quälendsten Erfahrungen des Betrachters dort festgehalten, die verzweifelten Momente von Einsamkeit und Orientierungslosigkeit, das erstickende Gefühl von Selbstverachtung und Selbsthass, ein unendlich tief empfundener Kummer und eine überwältigende Angst – all das wurde in diesen Gestalten ausgedrückt. Es waren die gleichen morbiden Eindrücke einer angedeuteten Agonie, einer gewaltsamen Auflösung, die Hessen in seinem Werk aus dem Jahr 1938 zu verwirklichen suchte. Aber Seth hatte diese Ideen noch ein Stück weiter getrieben, er hatte Hessens Entwürfe als Ausgangspunkt genommen und die in den Skizzen angedeuteten Elemente weitergeführt und auf großer Fläche ausgebreitet mit einer Lebendigkeit, die erst durch die Verwendung von Ölfarben möglich war.
»Sie haben seine Gemälde gesehen, Seth. Irgendwo. Es muss so sein. Erzählen Sie mir davon, Seth, bitte. Deshalb arbeiten Sie in diesem Haus. Weil Sie Bescheid wissen.«
Er schüttelte den Kopf und trat vom Fenster weg, vor dem er die ganze Zeit gestanden hatte, während er zusah, wie die Bilder an den Wänden auf sie wirkten. »Nein, vorher wusste ich überhaupt nichts von ihm. Habe nie in meinem Leben von ihm gehört. Ich habe Brueghel studiert und Bosch und Dix und Grosz. Die haben mir viel bedeutet. Vielleicht hat mich das ja darauf vorbereitet. Damit ich diese Arbeiten weiterführe. London ist das perfekte Medium für solche Visionen. Hier ist die Trennungslinie dünner. Hier geht nichts verloren.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie. Sie verstand seine Einlassungen nur halb, wollte ihn aber nicht unterbrechen.
»Etwas ist mit mir passiert. In meinem Träumen. Bei der Arbeit. Hier. Und Teile dieser Träume sind mir nach dem Aufwachen wieder in den Sinn gekommen. Auf einmal war die Welt anders als vorher. Ich dachte zuerst, ich sei verrückt geworden. Ich sah auf einmal seltsame Dinge. Nachdem ich die Geräusche in Apartment sechzehn gehört hatte. Als wollte dieser Ort meine Aufmerksamkeit erregen. Also bin ich reingegangen. Und dort habe ich diese Gemälde gesehen. Und verstand auch, was ich da sah. Es war das, was mir in meinem Träumen offenbart worden war, von einem Meister.«
Er hielt inne. Ihr Gesichtsausdruck brachte ihn zum Schweigen. Als er die Gemälde in Apartment Nummer sechzehn erwähnt hatte, war Apryl ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen.
»Gemälde? Hessens Gemälde befinden sich noch immer in dieser Wohnung?« Sie sprang auf. »Sagen Sie es mir, Seth. Sagen Sie mir die Wahrheit. Sind die Gemälde noch immer in diesem Apartment?«
Er wandte sich ab, verzog das Gesicht, als wäre gerade jemand ungebeten in sein Zimmer eingedrungen, und sagte: »Verpiss dich.«
»Was?«
»Entschuldigung. Nicht Sie.«
»Seth?«
Er schüttelte den Kopf. Sein Mund bewegte sich, als wollte er etwas Richtung Tür sagen, aber dann drehte er sich um, fuhr sich mit den Händen übers blasse Gesicht und seufzte. »Es … es ist gefährlich.«
»Gefährlich? Das verstehe ich nicht. Was meinen Sie damit?«
Er ließ sich aufs Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. »Das ist schwer zu beschreiben. Sie würden es mir sowieso nicht glauben. Ich hätte dort niemals hineingehen dürfen. Es ist nicht erlaubt. Man kann es nicht beschreiben. Ich wollte doch nur sichergehen, dass niemand dort eingebrochen ist. Wegen der Geräusche. Und der Telefonanrufe. Aber dann hab ich sie gesehen. Die Gemälde. Mein Gott, diese Gemälde!«
Kaum hatte er aufgehört zu sprechen, warf er wieder einen Blick zu seiner roten Zimmertür, als hätte
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