Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
auf und ging zu dem schweren, dunklen Möbelstück, das am Fuß des Betts stand.
Der Schlüssel passte gleich ins erste Schloss und drehte sich mit einem Knacken, das sie mehr spüren als hören konnte.
In der obersten Schublade lagen unglaublich viele Fahrkarten. Für Zug- und Flugreisen – sogar für Schiffsfahrten. Sie waren nach Jahren geordnet, und die einzelnen Stapel wurden mit Gummibändern zusammengehalten. Keine der Fahrkarten war geknipst, abgestempelt oder an der perforierten Linie abgerissen worden. Es handelte sich um Tickets für Reisen, die niemals stattgefunden hatten. Und die meisten hatten die Vereinigten Staaten als Ziel. Seit dem Jahr 1949 hatte Lillian offenbar die Absicht gehabt, nach Hause zurückzukehren.
Apryl fiel ein, wie Lillian sich laut Stephen vor ihren morgendlichen Spaziergängen verabschiedet hatte. Am Tag, als sie gestorben war, hatte sie einen kleinen Koffer bei sich gehabt, in dem sich ein abgelaufener Pass und ein Flugticket befunden hatten und Dinge, die eindeutig für eine Reise nach Übersee gedacht waren. Aber warum hatte Lillian die Verbindung zu ihrer Schwester und ihrer Familie abgebrochen, wenn es offenbar so wichtig für sie gewesen war, nach Amerika zurückzukommen? Das passte alles nicht zusammen.
Sie hatte von eigenartigen Obsessionen gehört und genau ausgeklügelten, aber irrationalen Gewohnheiten, und all das war ein weiterer Hinweis auf die Verwirrtheit ihrer Großtante. Dieses Abdriften hatte wohl schon vier Jahrzehnte früher begonnen. Bekleidet mit einem altertümlichen Hut und einem Schleier hatte sie immer wieder das Haus verlassen, offenbar mit dem Ziel, nach Amerika zu reisen, war aber jedes Mal nach einer Stunde verwirrt und desorientiert zurückgekommen. Dann hatte sie sich wieder erholt und das Ganze am nächsten Tag erneut begonnen. Wenn es nicht ihre Tante und Wohltäterin gewesen wäre, hätte Apryl vielleicht nur darüber gelächelt. Stattdessen fragte sie sich, wie es möglich war, dass man dies bei einer so wohlhabenden Dame so lange Zeit hatte geschehen lassen.
In der Schublade darunter lagen Kopien der Geburtsurkunden von Lillian und Reginald, einige nicht abgestempelte Briefmarken, Militärorden von Reginald, sein Ehering und Haarspangen in einem Plastikbeutel. Darunter kam ein dicker Haufen privater Unterlagen zum Vorschein, die aussahen wie Investmentverträge, Versicherungspolicen und Haushaltsabrechnungen, allesamt sauber geordnet abgeheftet. Ihre Tante war offensichtlich genauso akribisch wie verrückt gewesen. Apryl nahm sich vor, später alles genauer durchzusehen.
Die untere Schublade enthüllte die letzten unbekannten Dinge aus dem Nachlass ihrer Großtante, es sei denn, es gab irgendwo noch einen Safe oder ein Schließfach in einer Bank. Der etwas strenge Geruch, der davon ausging, stach ihr in die Nase, war aber nicht unangenehm. Er erinnerte sie an Bleistiftspitzen, Staub und getrocknete Tinte. Der Geruch verging gleich wieder. Apryl starrte auf eine Schublade, die mit zahlreichen Büchern gefüllt war. Alle hatten schlichte, einfarbige Buchdeckel und stammten offensichtlich aus einer Zeit, als Buchdruck und Buchbindung noch als Handwerk angesehen wurden. Jeder Band war von feinem Stoff umhüllt oder hatte einen Ledereinband. Alle waren eingestaubt und offenbar vergessen worden, sahen aber wertvoll aus – in gewisser Weise waren sie ein Sinnbild für die letzten Lebensjahre ihrer Großtante.
Sie schlug das rote Buch auf, das ganz oben auf dem Stapel lag. Es bestand aus linierten Blättern, die mit der Hand beschrieben waren, aber es war nirgendwo ein Datum angegeben. Sie blätterte die steifen Seiten durch und bemerkte, dass jeder Eintrag auf einer gesonderten Seite gemacht worden war. Die Handschrift wirkte eher ungelenk.
Die Worte waren nur schwer zu entziffern. War das ein b ? Was zuerst eindeutig wie ein s ausgesehen hatte, entpuppte sich als f . Die Schrift neigte sich so weit nach rechts, dass die längeren Linien Gefahr liefen, ganz flach zu liegen, wodurch manche Buchstaben wirkten, als würden sie gegen die blauen Linien gedrückt. Sie blätterte zum letzten Eintrag. Da stand etwas von »morgen früh werde ich es noch mal versuchen«, und »ich werde die Bayswater Road nehmen, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe«.
Sie kehrte zur ersten Seite zurück, schob ihren Zeigefinger langsam von einem Wort zum nächsten und bewegte die Lippen wie ein Kind, das gerade lesen lernt. So ging sie ganz langsam das
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