Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
Gekrakel durch, wobei sie ganze Sätze oder Abschnitte wegließ, wenn die Buchstaben nicht zu entziffern waren. Gelegentlich konnte sie ein einzelnes Wort deutlich lesen, manchmal sogar einen ganzen Satz wie: »weiter als jemals zuvor. Jahre her.« Und: »Es gibt Risse, durch die man gelangt, wo er nicht folgen kann. Oder einen erwartet.« Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie es wirklich richtig entzifferte, und inzwischen waren ihre Augen schon recht müde geworden. Das Licht im Schlafzimmer war einfach zu schwach für so eine mühselige Arbeit.
Sie legte das erste Tagebuch beiseite und holte fünf weitere aus der Schublade. Die Handschrift war genauso wie im ersten Band, aber in einem davon waren immerhin Monatsnamen über den Einträgen vermerkt, auch wenn hinter ihnen Fragezeichen standen – »Juni?« – , als hätte Lillian nicht gewusst, zu welchem Zeitpunkt sie das schrieb.
Insgesamt waren es zwanzig Tagebücher. Apryl legte sie alle auf die Kommode, in genau der gleichen Ordnung wie sie in der Schublade gelegen hatten, weil sie davon ausging, dass ihre Großtante sie in zeitlicher Reihenfolge hineingelegt hatte, sodass das älteste Tagebuch ganz unten lag.
Damit hatte sie recht. In dem letzten Band, den sie herausnahm war die Schrift viel deutlicher. Alles war ziemlich gut lesbar und sah auch viel besser aus. Es gab auch keine Fehler, als hätte sie sich vorher genau überlegt, was sie dort hinschrieb.
Ohne sich um die Telefonate zu kümmern, die sie eigentlich führen wollte, ging Apryl zurück ins Bett und ließ sich auf die muffig riechenden Daunenkissen fallen. Dann begann sie willkürlich ausgewählte Seiten im ersten Tagebuch zu lesen:
Highgate und Heath sind mir inzwischen völlig verloren gegangen. Ich habe mich damit abgefunden. Ich bin dort hingegangen, um mich an die vielen Spaziergänge zu erinnern, die wir gemeinsam unternommen haben. Aber sie werden wohl nur in meiner Erinnerung lebendig bleiben. Ich hab die St. Paul’s Kathedrale seit sechs Monaten nicht mehr gesehen. Ich komme nicht in die Nähe der City. Es ist zu schwierig. Nach meinem Erlebnis in der U-Bahn habe ich mir vorgenommen, nie mehr unterirdisch zu reisen. Die Atemnot und das Angstgefühl sind ja schon auf der Straße sehr heftig, aber unter der Erde, in diesen engen Tunneln, wirkt sich das noch viel schlimmer aus. Sogar meine Nachmittage in der Bibliothek und im British Museum in Bloomsbury sind riskant geworden.
Die etwa auch noch?, frage ich mich verzweifelt. Wann wird diese Tortur endlich vorbei sein und was wird mir am Ende übrig bleiben? Der Druck in meiner Brust und meine Sehstörungen haben mich im Lesesaal bereits zweimal überfallen wie ein ganz langsam beginnender schrecklicher Migräneanfall. Jemand brachte mir ein Glas Wasser. Beim zweiten Mal hat ein Mann mit grässlichem Atem versucht, Kapital daraus zu schlagen.
Doktor Hardy behauptet steif und fest, ich sei kerngesund. Aber wie ist das möglich? Doktor Shelley hat mir erklärt, ich leide an Agoraphobie. Er wird weiterhin darauf bestehen, sich mit meinen Kindheitserinnerungen zu befassen. Bald werde ich mit meiner Weisheit aus der Harley Street am Ende sein. Ich traue mich nicht, ihm von den Spiegeln zu erzählen. Alles andere muss auch noch nach unten geschafft werden.
Die meisten Einträge im Tagebuch ähnelten sich. Lange Beschreibungen von Müdigkeitsanfällen und eigenartigen körperlichen Zuständen an verschiedenen Orten in London, die Apryl sich nicht vorstellen konnte und auch nicht auf dem Stadtplan fand. Aber ihre Tante schien an akuten Angstanfällen gelitten zu haben, wenn sie sich zu weit vom Barrington House entfernte.
Weiter hinten verwandelten sich die Einträge immer mehr in Listen von Richtungen, in die ihre Tante versucht hatte zu gehen, um die Stadt zu verlassen oder gar zu entkommen. Zahlreiche Bahnhöfe wurden erwähnt: Euston, King’s Cross, Liverpool Street, Paddington, Charing Cross, Victoria. Lillian hatte versucht, bis dorthin vorzudringen, war aber jedes Mal wegen eines Anfalls mit unangenehmen und lähmenden Begleiterscheinungen gescheitert. Diese Anfälle nannte sie ganz einfach die Krankheit .
Vielleicht versuchte sie auch nur, eine Art Grenze zu erkunden, von der sie glaubte, dass sie ihre Freiheit einschränkte. Manchmal schien es, als unternähme sie ihre Exkursionen nur, um sich darüber Gewissheit zu verschaffen.
In einigen Einträgen wurden auch andere Personen erwähnt, die allerdings nie besonders
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