Apfeldiebe
aus und suchte nach einem Halt. Doch die Bäume tanzten, Hasso schwebte wie von Zauberhand emporgehoben durch die Luft, die Sonne hüpfte und plötzlich war da der schlimmste Schmerz, den er jemals im Leben gespürt hatte. Eine Faust saß in seiner Brust und drückte alles, was sie zu fassen bekam, zusammen. Wie Stromstöße, so jagten Schmerzschauer aus der Brust kommend in Arm und Hals, jeder Stoß stärker als der Vorgänger. Seiler fiel auf die Knie, aber die Welt drehte sich weiter und der alte Mann mit ihr. Bis ihm schwindlig wurde und er das Gesicht ins Gras legte. Die Faust in seiner Brust hatte den Hals erreicht und drückte und drückte und was sie noch an Luft in diesen Körper ließ, reichte vorne und hinten nicht aus, diesen am Leben zu erhalten.
Gernot Seiler drehte sich auf den Rücken. Das Letzte, was er spürte, war Hassos Zunge, das Letzte, was er hörte, die Rufe eines Kindes und Hassos Fiepen. Das Letzte, was er sah, war ein strahlend blauer Himmel mit einer sich drehenden Sonne. Das Letzte, was er dachte, hieß Mona-Lisa und zum ersten Mal seit fünfzig Jahren sah sie ihm direkt in die Augen und zum ersten Mal seit fünfzig Jahren lächelte sie.
Die Schmerzen ließen nach, verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Wärme flutete in Seilers alten Körper. Und Glück. Der Himmel über Seilers Gesicht bekam Risse, blaue Farbe blätterte ab und zum Vorschein kam Mona-Lisa. Gut, sie wartete auf ihn.
Sehr gut.
Gernot Seiler starb.
38 Das Licht der Welt
An die Stille hatten sich die Kinder in den hinter ihnen liegenden Tagen gewöhnt, langsam zwar und, wie Max’ Beispiel zeigte, auch nicht in jedem Fall ohne Folgeerscheinungen, aber sie hatten gelernt, mit dieser Stille zu leben. Wenn man mitten drin steckte in diesem Zauberwürfel, der sich Leben nannte und von allen Seiten Ablenkungen, Bilder und Geräusche auf einen einstürmten, wenn Gott unablässig an diesem Würfel drehte und beinahe minütlich alles durcheinanderbrachte, dann hieß das Ergebnis Leben und, einmal in dieses Spiel hineingeboren, wusste man es einzuschätzen, filterte ganz automatisch Wichtiges von Unwichtigem, fand sich zurecht, auch wenn die Richtungen und Wege sich änderten, denn die Zutaten zu diesem Leben blieben immer die gleichen. Hier im Berg aber galten diese Gesetze plötzlich nicht mehr. Die Ohren hörten nur noch den eigenen Herzschlag darin rauschen, Augen sahen einzig das beleuchtete Gegenüber – nichts, was vom Hier und Jetzt ablenkte, Stille, welche alles auf den eigenen Mittelpunkt hin konzentrierte und danach das diesen Mittelpunkt umschließende Kind mit diesem Konzentrat allein ließ. Stille – sie schärfte die Sinne.
Fünf Tage Stille hinterließen ein Haus, aus dem alles Überflüssige verschwunden war: keine Erinnerungsstücke ohne Erinnerung versperrten mehr den Blick, kein Tand und Kitsch blockierte mehr die wichtigen Türen. Plötzlich, ohne all den gesammelten Plunder, fand man sich wieder zurecht, entdeckte längst vergessene Türen und Fenster und hatte Platz zum Tanz im eigenen Wohnzimmer. Und dann stieß ein alter Mann die Wohnungstür auf und warf eine Lkw-Ladung Geräusche ins Haus, Geräusche, die aber nicht mehr wie noch vor einer Woche zu einem unbeachteten und an der Wand im Hintergrund klebenden Brei verschmolzen, sondern jedes für sich ausreichten, die Jungen in den Wahnsinn zu treiben. Vogelgezwitscher drang in den Berg und rief bei jedem einzelnen der Kinder Erinnerungen wach, besser als jedes Fotoalbum. Wind raschelte durch die über der kleinen Öffnung weilenden Bäume, rieb Blätter aneinander, löste eines von ihnen vom Holz und warf es in den Trichter – aus Dummheit, Ignoranz oder um die Wesen da im Berg zu quälen. Oder weil es einfach an der Zeit dafür war. Das Blatt, an den Rändern bereits vertrocknet und braun, in seiner Mitte aber noch dem alten grünen Leben verhaftet, segelte wie ein außer Kontrolle geratener Gleitschirm in die Tiefe, drehte sich bis zum Schluss um die eigene Achse und drei Augenpaare verfolgten dieses Wunder. Kasi vergaß darüber den Schmerz in seinen Händen, Timi den gefesselten Bruder und Alex seine Hoffnung auf baldige Befreiung durch Gernot Seiler. Mit großen Augen sahen sie das Blatt näher kommen und wie es sich zuletzt auf die Schutthalde legte, so selbstverständlich, dass es beinahe schon körperliche Schmerzen verursachte. Keines der Kinder wagte sich zu bewegen, als könne ein unbedachtes Zucken der Hand dieses Wunder
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