Apocalypsis 3 (DEU): Collector's Pack. Thriller (German Edition)
geringste Idee, was in dem Krankhaus überhaupt passiert war, stürzte er mit den letzten Flüchtenden aus dem Gebäude. Über dem Dach kreisten zwei Hubschrauber. Aus zahlreichen Lautsprechern plärrten Kommandos auf Hebräisch, von allen Seiten rasten weitere Rettungs- und Armeefahrzeuge heran. Anselmo rannte einfach weiter, den Mount Scopus hinab, bis er auf einer kleinen Straßenkreuzung kraftlos zusammensackte. Wimmernd, keuchend, weinend und betend kniete er am Boden, während der Schock langsam von ihm abfloss und nur Kälte zurückließ. Er zitterte. Als er ein Motorrad in der Nähe hörte, das ihn mit seinem Scheinwerferlicht streifte und auf ihn zuhielt, kehrte die Panik zurück. Er sprang auf und wollte weglaufen.
»Eh, Anselmo! Bleib stehen!«
XXXIX
22. Juli 2011, Ny-London, Insel Spitzbergen
V on der ehemaligen Marmormine am Forlandsund waren nur noch zwei verfallene Bergarbeiterhäuschen und einige rostige Maschinenteile auf dem felsigen und inzwischen fast schneefreien Grund zu erkennen. Zu allen Seiten umgaben graue Berge das kleine Endmoränenplateau, rundgeschliffen von den Gletschern der Eiszeit. Im Winter war dies eine reine Eislandschaft, jetzt, im arktischen Sommer, schafften es nur Moose und Flechten, die sonnigen Stellen auf den Felsen und dem Geröll ringsum zu erobern. Ein rauer, toter Ort, die Luft immer noch so kalt, dass Nakashima seinen Daunenparka brauchte. Warm eingepackt stand er auf einem kleinen Hügel mit Blick auf den Sund, genoss das magische Licht der arktischen Sommernacht und gab sich für einen kurzen Moment der Illusion hin, dass die Zeit einfach anhalten würde. Dass alles genau so bleiben würde wie jetzt gerade in diesem Augenblick, wie eingefroren. Ein schöner Gedanke. Ein altes Haiku von Kobayashi Issa ging ihm durch den Kopf und verstärkte das Gefühl von Einsamkeit.
Der Schnee ist geschmolzen.
Das Dorf läuft über
von Kindern.
Er wusste nicht, warum ihm gerade dieses Haiku einfiel. Weder an diesem Ort noch in seinem Leben gab es Kinder. Aber das alte Gedicht ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und löste ein Gefühl aus, dass Nakashima nur noch sehr selten empfand, das ihn aber sofort an seinen strengen Vater erinnerte: Scham. Nakashima beschloss, das Haiku später zu tuschen, immer wieder. So lange, bis diese Scham, einen zu hohen Preis bezahlt zu haben, nachließ.
Sein Funkgerät knackte. Ein Mann in einem roten Daunenparka winkte ihm vom Eingang her zu. Ohne Eile kehrte Nakashima über das flache Geröllfeld in die unterirdische Bunkeranlage zurück. Die Anlage war das fast identische Gegenstück zum weltweiten Saatguttresor auf Spitzbergen, den die ›Konferenz‹ über die von ihr kontrollierten Regierungen und Firmen finanziert hatte. Tief im Fels lagerten die Samen von Millionen von Pflanzenarten. Darüber hinaus barg die Anlage Ny-London auch die Gene der meisten bekannten Tierarten und Ethnien der Menschheit. Eine Arche, die die Konferenz für den Fall der Apokalypse gebaut hatte, einschließlich Schutzräume für den Führungsstab der Konferenz und weitere fünfzig Mitarbeiter und Wissenschaftler. Ny-London besaß ein eigenes Kraftwerk, eine Frischwasseraufbereitungsanlage, die modernsten Luftfilter und Kommunikationssysteme und war ursprünglich geplant worden, um ein weltweites Inferno nach Ausbruch eines Supervulkans oder einem Kometeneinschlag zu überleben. Einen Atomkrieg musste die Konferenz nicht fürchten, da sie allein über die Aktivierungscodes verfügte. Sämtliche Weltuntergangs-Szenarien wirkten jedoch lächerlich im Vergleich zu dem, was ihnen tatsächlich bevorstand. Man würde verhandeln müssen, ein unerhörtes Novum in der Geschichte der Konferenz . Dennoch dachte Nakashima die ganze Zeit nur an das alte Haiku.
Nakashima legte den Parka ab, wartete geduldig, bis die gewaltige Druckschleuse sich geschlossen hatte, und fuhr mit dem Fahrstuhl ins vierte Untergeschoss der Anlage, wo der Versammlungsraum der Konferenz lag, ein nüchterner, kreisrunder Saal mit einem kreisrunden Tisch, an dem bereits sämtliche Mitglieder des inneren Führungskreises saßen. Sechs Männer und drei Frauen, meist Vorstände oder Erben der größten internationalen Konzerne, die jedoch alle nur selten öffentlich in Erscheinung traten. Kein Politiker, kein Fürst, das verboten die Statuten der Konferenz , die diesen Namen erst seit Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts trug. Bis dahin hatte sie sich über Jahrhunderte als »Gilde« bezeichnet. 1382 von
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