Apokalypse auf Cythera
der Vorgänge, sondern mehr um die menschlichen Aspekte.
Einmal im Verlauf dieser Tage sagte Stapen:
»Wenn die Seele hungert, kann man sie nicht mit Wohlstand füttern. Das solltest du unsichtbar als Motto über deine Notizen schreiben.«
Sie sah ihn überrascht an.
»Wohlstand ist wohl das mindeste, was wir erwarten dürfen.«
Er grinste schief und erwiderte:
»Wohlstand tut genauso weh wie Hunger, bloß auf einer anderen Seite. Ich habe nicht das geringste gegen Wohlstand. Aber hin und wieder, in einsamen Nächten, glaube ich, daß Cythera ein wenig übertreibt.«
»Wie darf ich das verstehen, mein Freund?«
Ihre Stimme war ein wenig schärfer geworden. Ihre schwarzen Augen schienen Funken zu sprühen. Stapen schüttelte beruhigend den Kopf.
»Ich kenne deine Argumente, du kannst dir meine Gegenargumente vorstellen, aber ich bitte dich, eines zu bedenken: So bitter notwendig es ist, diesen Planeten, wo immer es möglich ist, wieder aufzubauen – aber es gibt eine Chance, die wir, glaube ich, versäumen.«
»Ja?«
In diesen vergangenen zwei Tagen hatte er mehr gelernt, als er für möglich gehalten hatte. Er kannte die Geschichte des Planeten seit dem Tag Null. Sie hatte begonnen, als die letzte Bombe detoniert war. Da sein Sprachgefühl nicht schlecht war und Adagia zum Teil die Diktion wegen der exakten Aussage vernachlässigte, hatte er in ihren Manuskripten behutsam herumkorrigiert und war auf Verständnis und Dankbarkeit gestoßen. Er glaubte, den schwachen Punkt dieses halben Jahrhunderts herausgefunden zu haben.
»Nach der Apokalypse entstand ein neuer Menschenschlag. Richtig?«
Sie nickte.
»Wir alle gingen daran, die vernichtete Natur wieder zurückzuverwandeln. Dies war wie ein heiliger Krieg. Wir bauten, konstruierten, dachten nach und schafften einige völlig neuartige Systeme. Stimmt?«
»Ja.«
»Wir umgaben uns mit Wohlleben, arbeiteten wie die Besessenen und sahen, daß wir Erfolg damit hatten. Es gelang uns in einem halben Jahrhundert, für uns einen so großen Teil des Planeten wieder aufzubauen, daß wir nicht nur autark sind, sondern auch exportieren und daher Dinge kaufen können, die wir nicht selbst herstellen können oder jedenfalls billiger kaufen. Habe ich recht?«
»Ja, natürlich. Worauf willst du hinaus?«
»Darauf!« sagte er und deutete durch die raumhohen Scheiben. »Kunst! Literatur und Musik! Avantgarde! Neue Formen des Zusammenlebens! Malerei! Und so weiter. In dem Augenblick, da Cythera nicht nur die selbstbewußten Überlebenden der Katastrophe präsentieren kann, sondern auch deren neue Fähigkeiten – die wirklich neu sind –, haben wir es endgültig geschafft.«
Sie lächelte; offensichtlich vergaß sie soeben einen schlimmen Verdacht. Wieder erkannte Stapen ihre eigentümliche Reaktion. Sie waren auf diesem Planeten alle so leicht zu verletzen wie ein sensibles Kind.
»Du magst recht haben«, sagte sie. »Aber du kennst die neue Philosophie!«
»Ich kenne sie«, sagte er, ohne zu wissen, wovon sie sprach, »aber ich würde mich ihretwegen nicht gerade mit anderen prügeln.«
Sie lächelte und schloß:
»Alles zu seiner Zeit. Zuerst die Arbeit, dann alles andere. Und wir sind noch lange nicht soweit!«
»Wir sind schon weiter, als es den Anschein hat!« sagte er.
Sie lebten seit mehr als fünfzig Stunden in einer Art Vakuum. Sie beschäftigten sich miteinander und mit der Arbeit. Sie verließen die Wohnung nur, um etwas einzukaufen. Einmal, während Adagia längere Zeit abwesend war, schaltete Stapen die Nachrichten an, aber keine einzige Meldung bezog sich auf ihn. Er war wieder beruhigt. In diesen Tagen lernte er ununterbrochen. Er prägte sich die Fakten ein und schob sie ab in sein Unterbewußtsein. Was ihm aber auch nach diesen Tagen fehlen würde, war die Kenntnis der technischen Belange. Energieerzeugung, Handel, Fabriken, Infrastruktur und – eine Karte. Er beendete das Lernen der geschichtlichen Belange und fand tatsächlich ein paar Karten. Er zog sie aus dem Stapel von Adagias Unterlagen, faltete sie und legte sie so hin, daß er sie mit einem Griff an sich nehmen konnte.
»Wozu ich eigentlich dieses Hotelzimmer genommen habe!« murmelte er am Morgen des vierten Tages. »Vermutlich nur, um meine Tasche dort abzustellen.«
»Falls ich dir lästig werde, kannst du davonlaufen!« sagte sie lachend.
»Ich bin sicher, du würdest mich in diesem Fall finden, Adagia!« erwiderte er.
Am Nachmittag des vierten Tages nahm seine Unruhe zu.
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