Apollofalter
Sohn heiratete, ging entschieden zu weit.
In diesem Ort unweit der französischen Grenze versah man etliche Dinge mit Eigennamen. Einen Nachttopf nannte man »Bottchamber«. Stiefmütterchen bezeichnete man mit dem französischen »Pansées«. Gelbe, weiße und lila Blütenköpfe mit nachdenklichen Gesichtszügen, die überall in den Gärten wuchsen. Die Jauche, die sich in den Misthaufen vor den Häusern sammelte, hieß »Puhl«. Und zu den Flüchtlingen aus dem Osten sagte man »Grumbeerkäfer«. Grumbeere, das hatte er später gelernt, kam nicht von »krummer Beere«, sondern von der Frucht, die in der Erde, also im Grund wuchs. Dass »Grumbeerkäfer« Schädlinge waren, die bekämpft werden mussten, war ihm erst viel später aufgegangen.
Irgendwann hatte er zu ahnen begonnen, dass sich seine Mutter ihr Leben grundsätzlich anders vorgestellt hatte. Sie, die aus einem großen ostpreußischen Gutshaus stammte, aus dem sie mit ihrer Familie vertrieben worden war, hatte sich nie damit abfinden können, dass sie den Rest ihres Lebens in einem engen Häuschen mit kleinem Garten verbringen sollte, vor dem eine hohe Birke den Blick verstellte. Vergeblich mühte sie sich, einige lichte Stellen mit Rosen und Lavendel zu bepflanzen. Einmal hatte er sie beobachtet, wie sie Lavendel zwischen ihren Fingern zerrieben hatte. Dabei war ein Blick in ihren Augen, der ihm Angst gemacht hatte. So sehnsüchtig war er. So wenig von dieser Welt.
Später hatte er verstanden, dass ihr nichts geblieben war, woran sie sich hätte halten können. Und dass sie gleichzeitig versuchte, wenigstens die Kinder nichts davon merken zu lassen.
Andreas hatte es ihrer Stimme angehört, wenn sie von ihrer Heimat erzählte. Dem weiten Land mit sattgrünen Wiesen und grasenden Pferden darauf. Ein Ort, in den sie nicht zurück durfte.
Die einzigen Reisen, die sie als verheiratete Frau unternahm, waren Sonntagsausflüge. Und auf diesem kargen Vergnügen bestand sie hartnäckig. Sie wollte nach Rüdesheim. Nach Zweibrücken in den Rosengarten. Rund ums Schwetzinger Schloss spazieren, wo man inmitten eines paradiesischen Parks einen Blick auf das gemalte Ende der Welt werfen konnte.
Verblasste Bilder, die aus einem Nebel von Erinnerungen aufstiegen und immer deutlichere Konturen annahmen. Mitbringsel von diesen Reisen waren seiner Mutter wichtig. Den Teller über dem Küchenschrank hätte er in allen Einzelheiten beschreiben können. Ebenso den blauen Plastikfernseher mit dem weißem Knopf und den angestrahlten Ansichten vom Rheinland im Inneren. Souvenirs. Mit einem Mal erschien ihm diese Zeit sehr nah. Wie in Zeitlupe strichen einzelne Ereignisse aus seiner Kindheit an ihm vorbei. Manche verharrten und blieben kurzzeitig als Standbilder stehen. Manche zogen schnell vorüber.
Da ist ein lachender kleiner Junge in kurzen Hosen. Und ein älteres Mädchen, seine Schwester Liane. »Komm, Andi, spazieren gehen.« Sie streckt die Hand nach ihm aus. »Komm mit in den Wald.«
»Im Wald, da sind doch die Räuber«, wehrt er ängstlich ab.
»Nur im Lied.« Sie lacht. Ein helles, klingendes Lachen, das seine Ängste verscheucht. Sie laufen in den Wald. Zwischen den dicken, borkigen Stämmen hindurch, immer tiefer, dorthin, wo nur wenig Licht hinfällt. Liane hält ihn fest an der Hand. Er denkt an die Märchen, die ihm seine Mutter oder die Großmutter vorgelesen haben. All die bösen Tiere, die im Dickicht lauern. Vor denen man sich in Acht nehmen muss. Aber so lange Liane bei ihm ist, kann ihm nichts passieren.
Und dann ist Liane plötzlich nicht mehr da. Sein Brustkorb zieht sich zusammen.
Liane, wo bist du?
Er irrt umher, schreit, ruft. Schrammt sich das Knie auf. Es blutet. Sein Herz pocht und pocht. Immer lauter. Er glaubt, es hüpft aus seinem Brustkasten heraus. Nirgends kann er Liane finden. Sie ist weg. Er schließt die Augen und denkt an den Schutzengel, der über ihren Betten wacht und an den er ganz fest glaubt. Auf dem Bild beschützt der Engel ein Mädchen und einen Jungen, die über eine Brücke gehen. Darunter fließt ein reißender Gebirgsbach. Der Engel mit dem weißen Gewand und den riesigen Flügeln schwebt hinter ihnen. Passt auf die Kinder auf. Nicht nur auf ihn und Liane. Auf alle Kinder.
Wo bist du, Schutzengel?
Ein Geräusch lässt ihn aufschrecken. Er hält den Atem an. Liane! Seine Stimme ist hoch und brüchig. Voller Angst. Liane, wo bist du denn? Er spürt, wie ihm die Tränen die Wangen hinunterlaufen. Wie ihm der Rotz aus
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