Apollofalter
Straftat. Und Hannah nutzte es nichts mehr, wenn ihre Privat-sphäre gewahrt wurde.
»Was Brauchbares?«, fragte Hinterhuber.
»Werden wir gleich sehen«, meinte Franca. Neugierig begann sie zu lesen. Die üblichen Sorgen und Nöte eines jungen Mädchens. Niedergeschrieben in einer runden Jungmädchenschrift. Soweit sie beurteilen konnte, nichts Spektakuläres. Die Eintragungen folgten in lockeren zeitlichen Abständen und waren undatiert. Hingeworfene Gedanken über die Schule, die beste Freundin, Jungs. Namen fielen, die Franca bekannt waren. Kathi, Nick, Marcus. Die drei Jugendlichen, mit denen zusammen Hannah das Forschungsprojekt bearbeitete. Ab und an eine anders geartete Bemerkung über Marcus. Der Junge hatte ihr wohl gefallen. Häufiger aber waren Kommentare zu der Arbeitsgruppe. Hannah schien dem Projekt viel Zeit gewidmet zu haben. Was ein wenig im Widerspruch stand zu den Aussagen der Schüler. Allerdings – da das Datum fehlte, konnte man nicht mit Sicherheit sagen, auf welchen Zeitraum die Eintragungen zutrafen. Ihrer Freude, die Geheimnisse der Natur zu entdecken und zu entschlüsseln, hatte Hannah oft, manchmal auch mit poetischen Worten, Ausdruck verliehen.
Das meiste überflog Franca. An einer längeren Passage, die sich auf Nick bezog, las sie sich fest. »Ich versteh mich ja ganz gut mit ihm«, hieß es da, »wenn er nur nicht so aufdringlich wäre. Schon so oft habe ich ihm gesagt, dass ich nichts von ihm will. Aber er will partout nicht verstehen, dass mein Herz für einen anderen schlägt.«
Aha, das war ja hoch interessant. Franca sah den jungen, hoch aufgeschossenen Mann mit der auffälligen Hahnenkammfrisur vor sich. Wie er um Hannah geweint hatte. Hannah hatte sich offenbar mehr und mehr von ihm bedrängt gefühlt, so sehr, dass es ihr unangenehm war, schrieb sie. Dabei habe sie ihm mehr als deutlich gesagt, was Sache sei.
Wer der andere war, für den ihr Herz schlug, wie sie es ausgedrückt hatte, darüber fand sich nichts Konkretes. Im Folgenden war häufiger ein A. erwähnt. Diese Seiten las Franca genauer. »Gespräche mit A. einfach toll«, stand da. »Hab soviel gelernt von ihm, wie noch von keinem Lehrer. Wo er überall rumgekommen ist. Malaysia, Kanada, Thailand. Das sind nur ein paar der Länder, die er von Berufs wegen bereist hat. So etwas würde mir auch gefallen. Denke verstärkt drüber nach, ob ich nicht doch Biologie studieren soll.« Ein paar Seiten weiter hieß es: »A. hat mir von den Täuschungsmanövern der Tiere erzählt. Aus dem Weinberg kenne ich den Rhombenspanner, der aussieht wie ein Stückchen Holz. Den habe ich öfter im Frühjahr beim Gürten gesehen. Wenn man dem nicht sofort den Garaus macht, höhlt er alle Knospen aus und es können keine neuen Triebe mehr entstehen. Obwohl man dadurch ja die Weiterentwicklung zum Schmetterling verhindert. Aber manchmal hat man eben keine Wahl.
Ich wusste nicht, dass es so viele Tiere gibt, die die perfekte Mimikry beherrschen. Da gibt es Käfer, die Steine imitieren, Baumfalter, die aussehen aus wie Rinde. Oder die Orchi-
deenmantis, eine Fangschrecke, die in Malaysia lebt. Sie sieht genauso aus wie eine Orchideenblüte. Total irre. Die Liste der Mogler und Täuscher ist unendlich lang. Also stimmt Schopenhauers Ausspruch nicht, dass es nur ein lügenhaftes Wesen auf der Welt gäbe und das sei der Mensch. A. hat mir erklärt, dass es den Tieren hauptsächlich darum gehe, das eigene Leben zu schützen und nicht gefressen zu werden. Aber natürlich wollen sie auf diese Weise auch Beute ergattern, klar. Überleben kann schließlich nur der, der seinem natürlichen Feind verborgen bleibt. Ist ja irgendwie logisch. Weil das das Wesen der Evolution ist. Ich muss unbedingt mehr darüber lesen. Vielleicht kann ich zu diesem Thema eine Hausarbeit schreiben.«
Ein emsiges, wissbegieriges Mädchen, das sich viele Gedanken machte. Dies bestätigten auch diese Tagebucheintragungen. Franca war enttäuscht, dass nirgends eine verräterische Andeutung über diesen A. zu finden war, denn unzweifelhaft handelte es sich dabei um Andreas Kilian.
Weshalb hatte er das Tagebuch zwischen seiner Dreckwäsche versteckt? Sie blätterte noch einmal vor und zurück. Da bemerkte sie, dass etliche Seiten fehlten. Sie waren herausgetrennt.
Franca ließ das Büchlein sinken. »Also doch«, dachte sie. »Warte nur, Kilian. Dich kriegen wir!«
»Frau Lingat?«, rief Franca, als sie zusammen mit Hinterhuber die Treppe herunterging.
»Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher