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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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nicht so, dass ihr die anderen egal waren, sie weinte dann mit den anderen mit, und es gab immer einen zum Weinen, und wenn nicht, dann weinten sie um den von gestern oder vorgestern oder einen aus Ellingen oder Hellersberg. Dann dauerte es nicht lange und es schrie der nächste auf.
    Es fielen der Franz und der Fritz und der Hans, und erst war es aus jeder Straße einer, und dann war es aus jedem Haus einer. Im Haus nebenan bei Schorschs klang des Nachts ein Weinen markerschütternd aus der Stube, das war schlimmer als am Tag, und sie heulten so laut, bis das Vieh in den Ställen erwachte und mitschrie.
    Die Klausemichels verschütteten jeden Morgen die Milch und brachten keine Kanne mehr heil zum Dorfplatz, und wenn der Milchmann kam, dann schrien sie schon und rannten fort. Auf dem Dorfplatz von Scholmerbach wollten sie immer noch Erbarmen vom Herrgott und beteten still, bis das Gespann um die Ecke kam, und sie beteten und beteten, und wenn der Milchmann stumm die zerkrumpelte Liste herausholte, dann begannen sie, den Herrgott anzuklagen.
    Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Unser Seppchen, unser Seppchen, unser Franz! Wieso hast du ihn uns genommen, wieso hast du ihn nicht beschützt, er hat keiner Seele etwas zuleide getan, er war so ein guter Mann, er war so ein grundguter Vater, er hat niemandem etwas Böses gewollt, mein Herrgott, wieso hast du uns das angetan, wieso hast du mich zur Witwe gemacht und die Kinder zu Waisen und hast uns im Elend zurückgelassen, mein Herr und mein Alles, was haben wir getan … warum nur, warum, Herrgott, was hast du uns angetan, warum nur, warum???
    Der Franz und der Seppchen und die anderen lagen unter dem Sand in der afrikanischen Wüste, oder sie waren im Baltikum in den Gräben verreckt, oder ihre Kadaver lagen gefroren auf der Erde von Stalingrad, oder sie verwesten in Belgien im Gräberfeld von Bastogne.
    Wären sie nur in Scholmerbach geblieben.
    Das Beten hatte nichts genützt, der Wille des Herrn war unergründlich und blieb ein Rätsel, und man konnte aufbegehren und sein Geschick verfluchen oder sich fügen – es änderte doch nichts, und die Männer kehrten nicht wieder, und nun wollte der kleine Egon auch noch gehen.
    – Wir müssen den Krieg gewinnen und kämpfen für den Führer!!
    – Ei Egon, sagte Willi, der Russe und der Ami, wenn dey komme, watt meinsde dann, wott die mit dir mache …
    – Die schießen ich alle duud!! Mir werden siegen!! Deutschland muss gewinnen, sonst will ich lieber sterwen!!
    – Ach Gottchen … et sind schon so ville gestorben. Da willst dou aach noch sterben.
    – Vater, wir müssen, wir müssen, lieber tot, als dem Feind unser glorreiches Deutschland auszuliefern, wir müssen an die Waffen und kämpfen bis zum letzten Mann!!!
    – Dou bist noch kein Mann, dou bist fünfzehn, Egon, dou darfst noch nicht kämpfe, dou musst derheim bleiben und uns helfe, bei der Dampfmaschin!
    – Aber ich muss gehen! Ich muss Trümmer aufheben in Frankfurt! Das hat der Oberscharführer befohle! Das es Pflicht!! Und die Ellinger müssen mitgehen, Stollen bauen!! Mir fahre mojen los mit dem Laster!! Ich kann net derhaam bleiben, wenn drauße der Kampf tobt!!
    Der Kampf tobte überall, nur nicht in Scholmerbach, und Egon brannte es in der Brust, sich loszureißen und dem Führer zu folgen, mit den anderen Hitlerjungen auf die Laster vom Reichsarbeitsdienst zu klettern und sich mit den alten Grubenarbeitern von der Alexa aufzumachen nach Frankfurt, denn dort wurden sie gebraucht, Egon wurde gebraucht, weil doch in Frankfurt die Bomben alles in Trümmer gehauen hatten. Nur Egon konnte da noch helfen, Egon und die alten, erfahrenen Stollenarbeiter, die in der furchtbaren Häuserwüste Schächte und gut abgestützte Tunnel durch die entsetzlichen Ruinen schlagen sollten. Nur alte Bergwerksarbeiter, die nicht im Kriege kämpften, konnte man brauchen, die siebzigjährigen Ellinger mit ihren Fachkenntnissen, und die kleinen Hitlerjungen von Hellersberg und Linnen und Scholmerbach mussten kommen auf dem Lastwagen und versuchen, Frankfurt zu retten.
    Grauenhaft ragten halbe Wohnzimmer über ihnen auf, und es liefen noch Mütter mit Kindern darin herum, als wäre die andere Hälfte noch da, und Egon sah staubige Oberkörper oder Arme oder Beine, die aus den Steinen ragten. Es rauchte überall und stank furchtbar, und man hörte ein ständiges Rumoren und Grollen in der Stadt von nachrollenden und stürzenden Mauern und zusammenbrechenden Decken und

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