Apollonia
Bruder Berthold, und Berthold soll mal die Tür zumachen und sie kommt gleich, es ist ja schönes Wetter.
Mein Bruder meinte, er heiße doch nicht Berthold, einen Berthold gäbe es hier nicht, er kennt keinen Berthold.
– Ei, der ist doch …, sagte Oma und hörte mitten im Satz auf. Im … da ist der doch.
Sie zeigte auf die Wand. Im Schuppen. Der hat doch den Geißbock … hat der doch.
Dann hörte sie wieder auf.
Meine Großmutter sah nun Dinge, die wir nicht sehen konnten, einen Berthold, eine Geiß, einen Schuppen, und sie sprach mit Leuten, deren Namen wir nie gehört hatten, einem Friederich, einer Traudel, einer Minna, nur einen Augenblick erschienen sie in der Schlafstube und sagten etwas, und im nächsten Moment waren sie schon wieder gegangen, und meine Großmutter Apollonia konnte sich nicht mehr erinnern. – Datt Minna … soll das Brot … den Hefeling … da steht er doch … Dann hatte Minna den Sauerteigrest geholt und war wieder verschwunden.
Meine Großmutter wusste nicht mehr viel von der Königin Silvia und der Prinzessin Margaret. Mehr und mehr schien ihr wieder der Kaiser von Deutschland in Erinnerung zu kommen, der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin, und wär es nicht so weit von hier, dann ging ich heut noch hin.
Die Kaiserfamilie hatte schöne weiße Kleider mit rosé Bändern und weißen Schuhen und bestickten Sonnenschirmen, das hatte Apollonia auf einer Pralinenschachtel sich einst ewig angesehen. Der Kaiser aber trug eine weiße Uniform mit einem roten Band und einen Hut mit einer prächtigen Feder und hatte die Brust voller Orden. Der Kaiser und die Kaiserin waren zurückgekehrt in die Träume meiner Großmutter. Man wusste nicht recht, meinte sie den Kaiser oder den Berthold, wenn sie sagte: Was für ein feiner und guter Mann, in der Uniform, der macht was her … da kann man sich nur verwundern … und wie es glitzert und blinkt …
In ihre früheste Kindheit konnte ich mit ihr nicht zurück, die Erinnerung hat sie mit niemandem mehr geteilt, doch schien es, als winke ihr am Ende noch einmal aus flüchtigen Bildern etwas zu, von einem Brot, das sie gebacken, oder einer Schüssel, die sie einmal abgestellt hatte, von einer Tür, die sie offen gelassen, oder einem Huhn, das sie verscheucht hatte. Kaum sprach sie einen Namen aus, schon war der wieder verflogen. Alles schien sich aufzulösen, im Augenblick, wo sie es dachte. Womöglich war der Eingang des Paradieses für meine Großmutter Apollonia schon erkennbar, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass der Übergang in eine andere Welt so hart ist, wie wenn man eine Falltür öffnet und ins Schwarze hineinplumpst und wartet, dass ein Engel einen auffängt.
Ich hatte als Kind in einem Wilhelm-Busch-Buch gesehen, wie die Seele aus einem gemalten Körper stieg und der Teufel die arme Seele hatte holen wollen und sich die Seele in der Mistgabel verhakt hatte. Natürlich würde meine Großmutter Apollonia nicht vom Teufel geholt werden, denn schlimmer als auf der Welt konnte es für sie nicht mehr kommen, aber ich konnte mir schon vorstellen, dass die Seele dem Körper so ähnlich entweichen würde wie in dem Buch. Außerdem glaubte ich, dass Apollonia nicht erst dann in das Himmelreich entsteigen würde, wenn ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen. Nein, ich glaubte, dass der Himmel sie nicht erschrecken wollte und daher Berthold, Minna und Fridolin und wie sie alle hießen, Apollonia besuchten. Sie gingen bei uns schon ein und aus, wir konnten sie bloß nicht sehen. Womöglich war der Kaiser Wilhelm selber bei uns im Schlafzimmer und hielt einen Staatsempfang. Ein altes Huhn war gekommen und ein Ziegenbock, vielleicht war niemand verloren, und auch kein Brot, das sie gebacken hatte, und keine Suppe, die sie gerührt hatte. Alles war aufgehoben in einem großen himmlischen Reich. Ich glaubte das zu wissen, denn ich war sechzehn, und mit sechzehn glaubte ich alles zu wissen, wenn ich bei meiner Großmutter saß, und alles war gut, so wie es war.
Da ich mit sechzehn alles wusste, war mir auch klar, was ich zu tun hatte mit meiner großen Liebe James Larry David Logan. Ich würde ihn aufspüren müssen im Manöver und Lydia Kosslowski an den Haaren aus der Feldküche schleifen und quer über den Rübenacker zerren und sie als Russin verkleidet den Amerikanern in einen Graben werfen.
Obwohl … Dann wäre sie ja schon wieder bei den Amerikanern. Konnte man Lydia überhaupt nicht loswerden? Oder sollte
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