Apollonia
Currywurst holen und brauchte noch fünf Mark, aber Mama hatte kein Kleingeld und sagte, ich solle mir rasch bei Oma was holen. Ihr Geldbeutel war in der Schublade neben den Palottinerheften in der Küche.
– Oma?, rief ich ins Schlafzimmer. Guten Morgen, Oma!!! Alles klar? Kann eysch fünf Mark habe? Geht et dir gut?
Ich blickte durch den Türschlitz und sah meine Oma im verwunselten Bett mit hochgeschobenem Nachthemd daliegen, und unter dem Nachthemd kamen Verbandsstreifen heraus und auch eine Art roter Gummischlauch, es sah ganz seltsam aus. Sie schien eben zu sich zu kommen und sagte klar und deutlich:
– Da, nimm dir, in der Küchenschublad, dou weißt doch, wo der Geldbeutel ist. Nimm dir ruhig zwanzig Mark. Wer weiß, wofür eysch noch was brauche.
Ich stutzte und wollte noch was sagen. Aber der Schulbus kam jeden Moment, und ich musste noch ins Dorf hinunterlaufen. Meine Oma war putzmunter, völlig klar, aber es kam ein roter Schlauch aus ihrem Körper und dicker Mull, und sie schenkte mir zwanzig Mark, die konnte ich jederzeit gut brauchen.
– Danke Oma … ich komme heute Abend wieder, aber wird vielleicht spät – halt die Stellung!
Ich sah sie noch winken und dann lief ich davon.
Im Schulbus öffnete ich meinen Ranzen und las noch mal die Packungsbeilage vom Fortral durch. Da war von vielerlei Wechselwirkung die Rede, nicht zusammen einnehmen mit Bicarbonatlösungen, Diazepam, Aminophyllin, Cimetidin, Furosemid … Und was hatte ich da noch von Apollonia? Leere Schachteln von Tabletten für den Blutdruck, was gegen Verstopfung, was für das Herz, was zum Einschlafen, was für den Magen … und die Nebenwirkungen vom Fortral: Sedation, Schwindel, Verwirrtheit, unerwünschte, flüchtige toxische Symptome wie rauschartige Zustände, euphorische oder dysphorische Verstimmungen, Wachträume, Sinnestäuschungen, Gedankenflucht und optische Halluzinationen.
Wenn nun meine Großmutter Apollonia alle diese Medikamente nicht vertrug und womöglich dem Kirchhof täglich näher rückte, weil der Dr. Samstag auf seltsame Weise mit Gott im Bunde war und die Gebete der Lebensmüden erhörte und eine teuflische Mixtur zusammengestellt hatte, die ihr den Sinn vernebelte und von den zerstörten Gedärmen auf die Leber und die Lungen übergriff und sie alle miteinander erst recht verkorkste und vermurkste und völlig ruinierte? Ach, läge man doch bloß auf dem Kirchhof. Ich musste mich darum kümmern. Noch heute ging ich in die Apotheke. Das wollte ich genau wissen. Dumm nur, dass ich Schule hatte bis um vier und noch mindestens zwei Stunden in der Schulhoftoilette brauchte, um mich zu schminken und zu kämmen für mein Rendezvous hinter den Zäunen der amerikanischen Armee, die mich so einschüchterte, dass mir den ganzen Tag die Zähne klapperten.
Meine Freundinnen fragten, was mit mir los sei und wieso ich kein einziges Schulbuch dabeihatte. Da musste ich im Löwengrill bei Cola und Pommes Bea meine schwerwiegenden Geheimnisse in ihrer unendlichen Dimension offenbaren, und auch Brigitt und Stefanie hörten gefesselt zu, wie ich mich in Tragik und Liebesnot und Gefahr verstrickt hatte, und sie wollten mir gerne beistehen. Es war schwer, ihnen zu erklären, dass nun Lydia Kosslowski an meiner Seite stand, und ich war ihnen in meinem Erfahrungshorizont deutlich voraus, das spürte ich. Es war schmerzlich für mich, aber ich konnte und durfte sie nicht mitnehmen. Diesen Weg musste ich allein gehen, ich und Lydia Kosslowski, das einzige Mädchen, das im Westerwald mit rosa Lippenstift die Biergläser verschmierte.
Um genau sechs Uhr stand ich vor dem Jonnies.
Da kamen Lydia Kosslowski und der dunkelhäutige Foreman, und er war beinahe zwei Köpfe größer als sie. Und er sagte:
– So, this your girlfriend?
– Och, girlfriend … sagte Lydia.
– Doch, schon, yes, sagte ich. We are not from the selben Dorf, but, here we kenne uns from one Dorf to the other, that is almost eins, we das andere …
– Nice to meet you, Foreman …, sagte er und schüttelte mir die Hand.
– Thank you so much!, rief ich und hielt ihm den Asbach hin und wollte ihm am liebsten noch die Flasche Stonsdorfer geben, die ich meinem Vater vorsichtshalber entwendet hatte.
– Ou yeah, dankescheen, Misses.
– So, sagte Lydia. Du musst jetzt einfach mitgehen, ich habe dem gesagt, was Sache ist, dass du den Schim suchst, dass der da oben irgendwie Schwierigkeiten hat … Er sagt einfach, du bist sein Gast, du zeigst im
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