Apollonia
Ich kroch unter den Barren heraus zu den Toiletten und wagte nicht zu atmen, bis ich eindeutig das Sirren und Klingen von Lydia Kosslowskis Armreifen hörte und ihre lila Fingernägel die Scheibe bearbeiteten:
– Marie!!! … Psst!!! Marie? Bist du dadrin?
Da spürte ich es bis ins Mark. Von nun an würde ich Lydia Kosslowski so was wie mein Leben verdanken.
– Jaaaa!, flüsterte ich und kroch Hals über Kopf auf die Männertoilette, durch deren Abluftrohr Lydias süße Mädchenstimme klang, und nie hatte ich sie so lieb gehabt wie jetzt.
– Ich bin hier!!!
Hinter ihr hörte ich Foreman knistern und daneben Jim flüstern und beide raunten drauflos:
– Gotta open the window, try to come through!!
Das Fenster war so schmal wie für eine Petra-Puppe, es war schmutzig und hatte ein Fliegengitter und war zugewachsen, aber es war die einzige Möglichkeit herauszukommen.
– Oh my God!
– Ich hoffe, ich packe das!
Ich habe mir die Hüften aufgekratzt und die Bluse zerrissen und steckte minutenlang im Rahmen fest. Der Sergeant hat seine Runden gedreht, und wir mussten uns im Gebüsch verstecken, und ich bin tausend Tode gestorben, und gerade da war Maria Cron Gold wert. Die Flasche hat die Nacht nicht überstanden.
Jim und mir blieben ein letzter Kuss, eine heftige Umarmung und ein Liebesschwur, und dann hat der große Foreman Lydia und mich hinausgebracht, und der Soldat hat Foreman ganz komisch angeschaut, weil Lydia so stark geschminkt und zerknutscht aussah und ich so zerkratzt und betrunken.
– Oh man, sagte er.
– It’s not what it looks like, sagte Foreman.
Dann waren wir draußen.
Ich hätte am liebsten den Boden des Westerwaldes geküsst, so froh war ich, dass ich der Gefangenschaft entronnen war. Von nun an, so schwor ich mir, wollte ich mich ordentlich benehmen und auch auf Jim einwirken, dass uns nie wieder jemand einsperren konnte und der Wind der Freiheit uns für immer um die Nase wehen würde, so wie ich es kannte, von Kindesbeinen an.
Der Wind fegte durch die leeren Steinbrüche vom Jammertal und in die Stollen der Ellinger Grube und über das Haselbacher Feld und zeriss den Eulenbirnbaum und fuhr durch die Weidenhecken und die mächtigen Buchen und Eichenwälder ringsumher, er hörte gar nicht auf zu wehen.
Meine Großmutter Apollonia hatte erzählt, dass in Südfrankreich der Wind ganz mild und lieblich gewesen sei und das Licht so schön geschienen habe, und der Himmel war ganz blau, und die Menschen haben gesprochen, so schön, als wären sie immerzu am Singen. Es war nicht so rau, und die Menschen waren nicht so rau. Es war ein anderer Schlag. Die Franzosen waren ein wenig feiner als die Westerwälder. Man sagte nicht Brot, man sagte »Bagett«. Das war ganz weiß und lang und schmeckte nicht so gut wie unser Brot. Aber sonst. Das »Franziesische«, das war doch was Feines, und es war die schönste Zeit in ihrem Leben, damals in Frankreich.
Aber die Zimmerleute hatten Heimweh gekriegt, und es ging doch nichts über Scholmerbach, so hatten sie ihre Koffer gepackt, »Adieu« gesagt und waren sehr stolz gewesen auf ihre Brücken in Marseille und über der Garonne bei Bordeaux.
Im Jahre 1933 brachte die Dampflokomotive meinen Großvater Klemens mit meiner Großmutter Apollonia, Balduin, Dagobert, Konrad, Ewald, Hannes und Schustersch Hermine zurück nach Wällershofen und von dort bis nach Ellingen, und von dort konnten sie ihre Pappdeckelkoffer nach Scholmerbach schleppen.
Es gab kein Lastauto und kein Benzin und kein Telefon, und keiner hatte gewusst, wann die Zimmerleute wiederkommen würden, mit ihren Fisimatenten aus Marseille, mit dem Zylinder von Onkel Dagobert und dem schönen Ring von Apollonia und dem Koffergrammophon von Onkel Hannes und der feinen Waschschüssel von Schustersch Hermine. Sonst hätten sie vielleicht die Gäule eingespannt, die prachtvollen, schweren Kaltblüter mit den langen, gelben Mähnen, die brave Liesel und den blinden Hans, aber so mussten die Brüder und die beiden Frauen zu Fuß nach Hause laufen. Apollonia aber musste sich in Acht nehmen, denn ihr magerer, hagerer Leib hatte sich in Frankreich prächtig wohlgefühlt und war im Land der Liebe erblüht und aufgegangen und hatte eine Frucht empfangen, die trug sie nach Hause auf den Zimmerplatz und in das Haus des Dapprechter Gustav, in dem sie von nun an mit Klemens wohnte, und oben wohnten noch der Gustav und Kathrein.
Meine Großmutter Apollonia war also in den Umständen aus Frankreich
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