Apollonia
nicht halten und rutschte immer wieder heraus.
– Ach, man ist gar nicht mehr gerichtet, für Besuch zu machen, sagte sie, und auch die Schleife am Hals schien nicht recht zu sitzen, das dunkelblaue Kleid war größer geworden, aber dunkelblau hatte ihr immer gut gestanden, denn sie war blond und schlank gewesen. Jetzt wollte sie sich immerzu entschuldigen, dabei hatten wir sie doch nur herbeigeschafft, um ihren Segen auf Apollonia herniederzuzerren.
– Ei Lona!, hauchte sie und setzte sich mit ihren spitzen Knien auf den Stuhl an ihrem Bett, und der Anblick schien ihr nicht zu bekommen, und sie suchte nach Worten, und zum ersten Mal in ihrem Leben schienen sie nicht von selber zu kommen, und die Seele versagte die tröstlichen Worte, und sie fehlten wie der Kaffee und die Plätzchen und die Mandarinen. Der Heiligenschein meiner Großtante hatte eine gewisse Brüchigkeit bekommen, eine Durchlässigkeit, als hätte sich eine gewisse Essenz darin schon ins Jenseits verflüchtigt, um sie dorthin zu locken, als sei das hier alles schon ohne Belang. Der Anblick meiner Großmutter schien sie darin zu bestätigen, und sie sagte schließlich unbehaglich:
– Jo, su kanns komme, mir sein net mehr viel wert.
– Ach, sagte meine Großmutter, es ist ein Kreuz mit dem Leben, was muss mer net alles mitmache …
– Wat hat mer net alles erlebt …
– Wat hette mir dat so schie habe könne …
– Habe mer damals wirklich de richtiche Freier genomme …?
– Mir hätte andere habe könne …
– Et kommt immer anders, als wie mer denkt.
– Hier liecht mer, en kemmt nicht mehr off.
– Furchtbor, furchtbor …
– Des es mol su komme muss …
Und ich hörte ihnen von der Küche aus zu, und es war ein solches Gejammer, dass ich mir wünschte, ich hätte Tante Hanna eingeladen. Die hätte ihnen mal ordentlich Dampf gemacht.
Ich überlegte, ob ich Onkel Günther bitten sollte, auch Tante Hanna herzukarren. Leider war es schon halb vier, und bis Tante Hanna von Langdehrenbach herüberkam! Aber das Schicksal meinte es gut mit uns, und sie war sowieso heute zur Bestrahlung gewesen und noch vom Doktor gut angezogen und wollte gerne ihre Schwestern wiedersehen und sagte: In Gottes Namen, Amen.
Es dauerte eine Weile, bis Tante Hanna die Treppe heraufgestiegen war, sie hatte einen eleganten Stock mit einem goldenen Ring am Knauf. Meine Mutter hatte Bohnenkaffee gekocht und beim Bäcker Puffertchen geholt, das nannte man anderswo Berliner. Tante Hanna musste man auf eine halbe Tasse Jakobskaffee eine halbe Tasse heißes Wasser schütten, und Tante Klarissa konnte nur noch Kaffee Haag trinken, und Oma bekam Fachinger Wasser, also trank ich die ganze Kanne Bohnenkaffee alleine. Tante Hanna war ein voller Erfolg.
– Sieh mal, wie dou da hängst! Ist es dann die Möglichkeit? Dou bist doch jünger als ich! Dou musst mal zur Bestrahlung kommen! Das hilft! Dou musst zum Professor nach Giessen! Bist dou bei Dr. Samstag, dem Kurpfuscher, dem Quacksalber, dem Scharlatan??!! Der hat mehr Leute auf den Kirchhof befördert, wie er ihnen geholfen hat, wenn ich noch an den armen Sepp denke!!
Bei dem Namen Sepp schienen Apollonia und Klarissa ein wenig lebendiger zu werden, und sie dachten an den Josepp von den Paulinchens, den auf offenem Felde der Blitz getroffen hatte. Als sie den Dr. Samstag holten in ihrer Not, da sagte der, der Josepp wäre am helllichten Tage ins Delirium gefallen, das käme von zu viel Saufen, und er müsse jetzt in die Säuferheilanstalt nach Neuenaahr. Josepp aber hatte nie viel getrunken, und in der Säuferheilanstalt hatten sie nichts mit ihm anfangen können, und wenn ihm nicht ein Sanitäter ganz rasch eine Spritze und die Sauerstoffmaske verpasst hätte, dann hätte er den nächsten Tag nicht mehr erlebt.
Mein Onkel schob Tante Hanna einen Stuhl so nahe an den Bettrand, dass er nicht umstürzen konnte, aber Hannas Knie immer noch genügend Platz hatten, und während Apollonia vergnügt im Kissen höherrutschte und Tante Klarissa an ihrem Puffertchen mümmelte, erzählte Hanna die gar schreckliche Geschichte vom Kartoffelaustun im Jahre 1937, als der junge Dr. Samstag zum ersten Mal nach Scholmerbach gekommen war.
Im Jahre 1937 waren die Kartoffeln besonders dick, und man musste sie nur herauswühlen aus den Feldern unter dem Kappesgarten, und es roch nach Erde und Kartoffeln, und das brennende Kartoffelkraut knisterte laut, und die Kinder schrien, wenn die Alten die gesammelten Mistkäfer
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