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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
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konnte sehen, wie dünn sie geworden war, als die sie auf der Trage herunterschleppten wie eine ältliche Puppe auf einer Liege, doch schon als die Flügeltüren vom Krankenwagen aufgingen und ein Sanitäter ein wenig stolperte, sagte sie:
    – Pass doch auf, du Simpel!
    Meine Mutter stieg ein mit der überstürzt gepackten Tasche und hielt noch die Schlappen in der Hand, und dann rollte der Krankenwagen auch schon aus dem Hof und hatte ein stummes Blaulicht angemacht. In dem Milchglasfenster versuchte ich noch einen Blick auf meine Großmutter zu erhaschen, aber ich sah nur einen Schatten bitter und hadernd und krumm nach dem Sanitäter treten, der sich an ihrem Untenherum zu schaffen machen wollte. Meine Mutter Marianne musste eingreifen und mit diesen Handgreiflichkeiten waren sie schon unterwegs nach Limburg an der Lahn.
    Da ich ja nun ausgeschlafen war und Oma nicht besuchen konnte, fühlte sich der Sonntag seltsam leer an, und ich konnte den ganzen Tag mit Jim verbringen. Es war ausgemacht, dass wir uns am Silbersee treffen.
    Die Schachtel mit der seltsamen Tube war schon ganz verknittert und ich fragte mich, wann wohl der geheimnisvolle Tag kommen würde, an dem wir das unschuldige Fest unserer Liebe feiern sollten, an dem ES geschah. Noch immer wussten wir ja nicht, wo um alles in der Welt wir ein Himmelbett aufschlagen sollten, um die Seligkeit des Paradieses zu erleben, von dem ich so viel hatte munkeln hören und dessen Preis ich zahlen wollte, um der großen Liebe willen.
    Der Silbersee schien mir geheimnisvoll genug und versunken und auch menschenleer, niemand ging dorthin, warum auch immer.
    – Here is nobody, sagte ich. Keiner kommt her, because so many jumped into die Tiefe und have killed sich.
    Sie waren in die Tiefe gesprungen und nun lagen sie auf dem Grunde des alten Steinbruches, und das Wasser tränkte sie für tausend Jahre zum ewigen Stillschweigen, und niemand wusste mehr, warum sie so unglücklich gewesen waren. Vielleicht schimmerte ja das Unglück noch durch das Wasser, und es war deshalb so seltsam grün und schillerte manchmal blau wie ein Edelstein. Das Wasser schien immer mehr Verzweifelte zu rufen, als sollten sie sich auch auf den Grund des Silbersees legen, denn er war so ungeheuerlich tief, so tief, als hätte man der Erde eine Ader aufgerissen.
    Es wäre seltsam gewesen, hätte uns hier ein Spaziergänger gefunden, unsere weißen Leiber vor dem unheimlich, unheimlich grünen Wasser, umringt von tiefgrünen, tiefgrünen Tannenwäldern und einigen wenigen Felsbrocken vor den steil aufragenden Wänden. Es wäre mir ein seltsames Liebeslager gewesen und ich hätte für immer an die Skelette denken müssen, die wir glaubten, im Wasser schimmern zu sehen.
    – Hm …, sagte Jim. – Maybe … vielleickt … ick habe ein andere Idee … hast du deine Passport nock?
    Mein Herz schlug bis zum Halse. Sollte es womöglich heute geschehen? Heute? An diesem Sonntag? Es war noch immer der Sommer 1977, und so hatte ich es mir gewünscht. Es sollte nun geschehen, mit dem Kerl, den ich liebte, es war der richtige Augenblick, das richtige Jahr, der richtige Blütenstand der Butterblumen, der Margariten und der Himmelsschlüssel. Ich war so aufgeregt, dass ich Blumen ausriss und sie mir wild ins Haar steckte als Verzierung.
    Da packte er meine Hand, und wir rannten los wie von Sinnen zur Struderlehe, hügelauf und hügelab, und ich fragte mich, was mit meiner Großmutter sei und ob sie schon operiert wurde und ob man ihr, wie sie sagte, wohl gerade den Leib verkrotzte. Als wir an der Liebfrauenkirche vorbeirannten, da winkte ich der Muttergottes einen Gruß zu und rief »Maria hilf!«, und in weniger als siebenundvierzig Minuten hatten wir es geschafft, vom Silbersee am Haselbacher Feld vorbei durch das Jammertal den Liebfrauenberg hinauf zur Struderlehe, und wir standen vor den Toren der amerikanischen Kaserne Fivel Fox, und es wehte die Flagge mit ihren fünfzig Sternen und dreizehn roten und weißen Streifen.
    – My girl!, rief Jim stolz und warf dem Wachhabenden meinen Ausweis hin und den seinen gleich daneben.
    – Okay, sagte der Soldat und ließ uns einen endlosen Bogen ausfüllen, ich schrieb zitterig und drückte die Nummern von meinem Ausweis mit dicken, verschmierten Ziffern in das Papier. Und so geschah es zum zweiten Mal, dass die Vereinigten Staaten von Amerika mir erlaubten, durch ihre Tore zu gehen und hinter all den Hecken und Zäunen die geheimnisvolle Struderlehe zu

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