Apollonia
familiären Situation.
– … mich mol im … kreuzweise …, sagte meine Großmutter.
– Jetzt ist aber Schluss!, schrie meine Mutter. – So ein feiner Mann! Wenn das nicht anders wird, packen wir heut noch unsere Sachen, dann kommst dou mit heim, wir können dich hier net lassen, wir müssen uns ja schämen!
Der Arzt beruhigte meine Mutter und meinte, das komme im Alter schon mal vor, dass ein gewisser Starrsinn oder eine mangelnde Einsicht sich bemerkbar mache, er nehme das nicht persönlich. Wenn aber Frau Heinzmann sich derart gegen jegliche Behandlung sträube, habe er gegen eine vorzeitige Entlassung nichts einzuwenden, auch mit Rücksicht auf das Personal.
Da war meine Mutter bedient, und ich fragte den Doktor vorsichtig, warum Oma auf einmal so aufs Klo müsse, davon sei ja vorher nie die Rede gewesen. Nun ja, liebes Kind, sagte der Doktor. Bei Ihrer lieben Großmutter …
– Dou alter Knochen … sagte meine Oma.
– … muss man wohl damit rechnen, dass die Physiognomie einer gewissen Reizsituation unterliegt und durch die angegriffene Psyche sich auch ein gewisses kindhaftes Verhalten einschleicht … man will raus … man will sich beschweren, wenn einem unwohl ist … Gönnen Sie es ihr einfach. Jetzt zum Beispiel lässt sie die ganze Station klar erkennen, dass es ihr Wunsch ist, nach Hause zu gehen. Das sollten wir ihr doch zugestehen, nicht wahr?
– Ich meinte, ob meine Oma mal muss oder ob sie nicht muss? Muss sie jetzt öfter?
– Probieren Sie es aus! Helfen Sie ihr! Ich gehe und mache den Entlassungsbrief fertig, sagte der Arzt. Sie können schon packen.
Meine Mutter war immer noch ganz verdonnert, und Onkel Egon ging auf dem Flur auf und ab, und ich wagte kaum, den freundlichen Doktor aufzuhalten, der meiner Oma nun wahrscheinlich schon zum zweiten Mal das Leben gerettet oder verlängert hatte. Aber eines wollte ich doch wissen und so lief ich ihm nach:
– Herr Doktor, ich wollte nur fragen … ist meine Oma denn sehr krank? Ich meine, wie lange, glauben Sie, hält sie noch durch? Sie können es mir ruhig sagen, ich bin alt genug und sehe den Dingen bewusst ins Auge!
Denn ich wusste ja: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, da war ich ganz mein Urgroßvater Josef.
Der Doktor bremste vor dem Schwesternzimmer ab und rieb sich gestresst die gerunzelte Stirn.
– Tja, Mädchen, wenn du den Dingen bewusst ins Auge siehst, dann weißt du ja sicher, dass nicht alles ewig währt, und auch nicht das menschliche Dasein. Tja. Deine Großmutter scheint noch eine ordentliche Portion Lebenswillen zu haben im Augenblick, hier, aber es kann sein, dass in wenigen Wochen, oder auch, wenn Gott will, es zu einem allgemeinen Versagen ihrer Organe kommt.
– Okay, sagte ich.
Es war für mich ein gewisser Moment von Ehrfurcht, dass er mit mir über so bedeutungsvolle Dinge so aufrichtig sprach, und es kam mir vor, als trete meine Großmutter in ein besonders heiliges und wichtiges Stadium ihres Lebens ein, da sie dem Paradiese bald näher rücken würde.
Wir konnten sie nun wieder mit nach Hause nehmen, und meine Mutter packte den gelben Helancapulli ein und die Waschlappen und die Handtücher und den Morgenmantel, und dann zogen wir Oma einen weiten Rock an und eine bequeme Strickjacke, und Onkel Egon fuhr bis zur Pforte und machte den Sitz ganz flach, und er schimpfte:
– Wir hätten den Krankenwagen nehmen sollen. So gut geht es ihr doch noch gar nicht.
Aber wir hatten Apollonia eingepackt und fuhren ganz vorsichtig, ganz langsam mit ihr nach Hause, und Mama wollte so schnell wie möglich der Gemeindeschwester Bescheid sagen, denn wer weiß, sagte sie, ob man jetzt noch mit ihr zurechtkommt. Die Schwester soll dreimal am Tag kommen. Wer weiß, wie das alles wird in den nächsten Wochen. Das geht ja dann auch ans Eingemachte, und sie ist eigentlich gar nicht gebacken für so was, sagte meine Mutter. Während wir durch Langdehrenbach fuhren und dann, hügelauf hügelab, durch Linnen kamen und die Sonne schien und wir weiter durch Hellersberge rollten, schien Apollonia immer friedlicher zu werden und ruhiger und schlief schließlich mit offenem Mund auf dem Beifahrersitz ein.
Meine Sehnsucht, mein Sinnen und Hoffen mit dem Duft nach Kirschen, Holunder und nach Brombeeren erfüllte mich ganz und gar, und mitten in meinem Sinnen und Hoffen wuchs meine Wut auf Lydia Kosslowski wie der schlimme Geißfuß, der räuberisch alles unterwurzelt und einen Baum umwerfen kann.
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