Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Held
Vom Netzwerk:
Hadamar und nicht nach Dietz.
    Noch am selben Abend bekam er den Einberufungsbefehl, und er wurde nach Ostpreußen an die Memel geschickt, und dann wurde es Winter.
    Als mein Großvater in den Krieg musste und das kleine Lehmhaus mit dem schön geschwungenen Fachwerk verließ, da wurde es seltsam still in dem kalten Schlafzimmer zu den Wiesen hin, wo der Schafsbach floss. Aber es war meiner Mutter Marianne und meiner Großmutter Apollonia, als könnten sie sich zum ersten Mal seit endlosen Jahren ausstrecken und dehnen und hätten viel längere Gliedmaßen, als würden sie sogar ein wenig wachsen unter den Federbetten.
    Niemand mehr nahm ihnen das Korn weg, um es zu Schnaps zu brennen, und keiner stolperte nachts besoffen zur Tür herein und stank nach Eckstein und lag morgens noch eine Stunde länger in den Federn. Aber es nannte auch niemand mehr meine Mutter ein Paradiesengelchen, und keiner spielte mehr das Harmonium, und keiner sang das Ännchen von Tharau, und die Dampfmaschine hörte auf zu dampfen und zu zischen und wollte das Gatter nicht mehr treiben.
    Am Zimmerplatz sollten sie Mühe haben, die schweren Tannen und Fichten von den Wagen auf den Vorplatz zu ziehen, zu mächtigen Gebirgen zu lagern und auszutrocknen, ihre Stämme auf die eisernen Gleiswagen zu schaffen und dann dem Fraß der Sägen anheimzugeben. Es war schwer, auf die Dächer zu steigen und ein Gerüst aufzubauen, wenn einer auf den First musste und nur einer unten anhalten konnte und keiner einem einen Schlaghammer reichen konnte oder eine Wasserwaage oder ein Lot. Darum nahmen sie nun immer den kleinen Egon mit, mit seinen vierzehn Jahren, er war Willis ältester Sohn, und er konnte schon mit dem Winkelmesser umgehen und mit dem Rechenschieber und turnte durch ein Dachgerüst wie ein Alter, ohne dass ihm schwindelig wurde. Sogar einen Richtspruch konnte er schon auswendig:
    Mit Gunst und Verlaub!
    Verhallet sind des Beiles Schläge,
verstummt ist die geschwätzige Säge;
drum preiset laut der Zimmermann
– so gut, wie er es eben kann –
den herrlich schönen, stolzen Bau,
der sich erhebt zum Himmelsblau,
    Mög’ Eintracht und Zufriedenheit
darinnen herrschen allezeit.
Mög’ Gott in diesem Hause sein! –
Darauf trink ich den Becher Wein.
Allen ein dreifaches Hoch! Hoch! Hoch!
    Wenn also Willi mal krank war oder Großonkel Balduin heiser und Großvater Josef nicht wollte, dann konnte er, der kleine Egon, auf das Dach steigen und vor dem mit Stanniolbändern geschmückten Bäumchen den Richtspruch aufsagen. Nur wenn sich die Hitlerjugend traf, dann konnte Egon nicht kommen, denn Egon war Pimpf, und er hatte eine schöne kurze Hose und ein braunes Hemd und ein Halstuch und vor allem aber, und das war das größte: ein HJ -Fahrtenmesser! Um nichts auf der Welt war Egon davon abzubringen. Sie machten Bootsfahrten und Ausflüge und Sportnachmittage. Egon konnte die germanischen Götter aufsagen, Thor, Wotan, Freya, und er wusste, wer die großen Deutschen waren: Armin, der Cherusker, Friedrich der Große, Bismarck, und er konnte Lieder singen aus voller Brust:
    »Der Franzmann zieht dahin daher, daher …
    der Tommi kann nicht mehr,
    die Deutschen schlagen zu, die Welt hat Ruh.«
    Er hatte außerdem eine Sammlung von Kriegerheftchen aus dem Geschäft von Honiels, in denen lauter Geschichten standen: Wie sie die feindlichen U-Boote versenkt und die Flieger von den Tommies abgeschossen hatten. Die las er jeden Abend und fand nichts schöner, als für Hitler in den Krieg zu ziehen, und er kletterte eifrig vom Dach, wenn der Gruppenführer alle auf dem Milchplatz zusammentrommelte.
    – Dou dummer Rotzbengel, sagte meine Urgroßmutter Charlotte. Was weißt dann dou vom Krieg!! Der Kleppels Berthold, der koom dumals wieder, der is so elendiglich verreckt an seine Bauchschüsse, der ist gestorwe an einem Kirmestach, der hat geweint, das hast dou in ganz Scholmerbach gehört. Der Krieg ist nix Schönes!! Bleib dou mal derheim, dat es kaa Kinderspiel!!
    – Aber Oma!, sagte Egon. Mir müssen kämpfe! Die Engländer komme! De Russe sein im Vormarsch!! Mir werden gebraucht! Der Führer braucht uns! Mich aach!!!
    – Bubche, hör off! Ich sag et dir! Mir dreht es dat Herz um, wenn de sowat sags!!
    Und mein Urgroßvater Josef betete den Rosenkranz, einen nach dem anderen, den schmerzhaften und den glorreichen und wieder den schmerzhaften und zwischendurch das Vaterunser.
    Noch einen Jungen hergeben, das ging ihm über den Verstand. Wer sollte mit

Weitere Kostenlose Bücher