Aprilgewitter
und dampfende Lokomotive in gemächlichem Tempo dem Bahnhof und hielt erst an, als der letzte ihrer Waggons neben den Bahnsteig rollte.
Sofort eilten die wartenden Passagiere auf die Türen zu, mussten aber warten, bis die Ankommenden ausgestiegen waren. Mehrere Dienstleute schoben Wagen mit Gepäck heran und schimpften, weil die Reisenden ihnen nicht sofort Platz machten. Lore hielt aufgeregt nach Nathalia Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken.
Unruhig ging sie auf dem Bahnsteig hin und her und musste dabei ständig aufpassen, nicht mit anderen zusammenzustoßen. Am liebsten hätte sie nach Nathalia gerufen, doch sie hätte brüllen müssen, um den Lärm zu übertönen.
Mittlerweile war Gregor Hilgemann zurückgekommen und hielt drei volle Becher in der Hand. Einen davon reichte er Lore, den anderen Jutta, die ihn erstaunt anblickte. Und auch den dritten Becher hatte er nicht für sich selbst gekauft. »Ihre Freundin wird ebenfalls Durst haben«, sagte er lächelnd zu Lore und bat Jutta, den Becher zu halten.
»Wenn ich Nati nur finden würde!«, entfuhr es Lore. »Ich hoffe nicht, dass sie unterwegs verlorengegangen ist.«
In dem Moment zupfte sie jemand am Ärmel. Sie fuhr herum: »Nati, endlich! Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.«
»Wie meist ganz unnötigerweise!« Nathalia von Retzmann grinste wie ein Kobold und schlang ihre Arme so heftig um Lore, dass diese einen Teil ihrer Limonade verschüttete.
»Du bist immer noch derselbe Wildfang wie früher. Dabei hatte ich gehofft, deine Manieren würden sich auf dem Schweizer Internat bessern«, sagte Lore lächelnd.
Die frohe Miene ihrer jungen Freundin machte einem gereizten Ausdruck Platz. »Erinnere mich nicht an die Schule! Die Mädchen dort sind strohdumm und die Lehrerinnen noch dümmer. Andauernd heißt es, das ziemt sich nicht und das darf ich nicht. Ich bin doch kein Affe, den man dressieren muss!«
Obwohl Nathalia sichtlich empört war, reizte ihr Tonfall Lore zum Lachen. »Gewiss nicht. Allerdings kann nur eine ältere Dame es sich leisten, als exzentrisch zu gelten. Ein junges Mädchen sollte diesen Eindruck vermeiden, sonst gerät es rasch in einen schlechten Ruf.«
»Pah!«, war Nathalias einzige Antwort.
Dann drehte sie sich um und bedeutete einem Dienstmann, näher zu kommen. »Das ist mein Gepäck«, sagte sie und wies auf drei große Koffer, die eben von einem Schaffner aus dem Waggon gehoben wurden.
»Dürft ihr in eurer Schule so viele Sachen haben?«, fragte Lore verblüfft.
Nathalia zwinkerte ihr fröhlich zu. »Natürlich nicht! Das Zeug habe ich mir unterwegs gekauft.«
»Und das hat deine Reisebegleiterin einfach zugelassen?« Lore sah sich nach der Lehrerin um, die Nathalia ihres Wissens hätte begleiten sollen.
»Welche Reisebegleiterin?«, fragte das Mädchen spitzbübisch. »Weißt du, Lore, es ist schlimm genug, wenn man mich unter dem Jahr am Gängelband hält. Das brauche ich in den Ferien nicht auch noch. Besagte Dame wollte erst mittags losfahren. Daher bin ich auf eigene Faust zum Bahnhof und habe einen früheren Zug genommen. Natürlich musste ich ihr vorher meine Fahrkarten mopsen, aber das war kein Problem. Ich glaube, sie wird sich freuen, mich los zu sein. Sie hatte nämlich gar nicht mitkommen wollen, aber die Direktorin hatte es ihr befohlen. Mir war es auch sehr recht, denn so hatte ich beim ersten Umsteigen mehr Zeit bis zur Abfahrt des Anschlusszugs.«
Nathalia erzählte es, als sei alles nur ein großer Spaß gewesen, und verstummte erst, als Jutta ihr die Limonade reichte. Währenddessen schüttelte Lore ein ums andere Mal den Kopf. Nati war da und mit ihr die ersten Probleme. Nun musste sie an die Direktorin des Internats schreiben, dass ihr Schützling glücklich angekommen war, und sich auch noch dafür entschuldigen, weil das Mädchen ausgebüxt war.
»Ich glaube, wir fahren erst einmal nach Hause«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer und hakte sich bei Nathalia unter.
Diese wies neugierig auf Gregor Hilgemann. »Wer ist denn dieser Herr?«
»Ein Freund, der sich erboten hat, mich zu begleiten, und dessen Schutz wir hier bereits dringend nötig hatten«, antwortete Lore und kam auf den Diebstahlversuch zu sprechen. Nathalia hörte ihr aufmerksam zu und schenkte dem als Offizier verkleideten Studenten anschließend ein gnädiges Lächeln.
Auf dem Potsdamer Platz ging Gregor Hilgemann auf einen Kutscher zu, der nach kurzer Zeit eifrig nickte und dann seine Droschke auf Lore und ihre
Weitere Kostenlose Bücher