Aprilgewitter
wusste, dass seine Karriere als Militär unter einem Kaiser Wilhelm II . ein jähes Ende nehmen würde, denn der Mann, dem er Hörner aufgesetzt hatte, zählte zu dessen engsten Freunden. Da der Kerl zu feige gewesen war, sich einem Duell zu stellen, tat er nun alles, ihn auf andere Weise zu vernichten. Palkow wollte jedoch beweisen, dass auch er zur Rache fähig war, und da kam ihm der Abscheu des Russen vor Prinz Wilhelm gerade recht.
I.
L ore betrachtete die Modezeichnung und sah dann zweifelnd zu Mary auf, die auf ihren Stock gestützt neben ihr stand. »Dieses Kleid wird nicht leicht zu nähen sein. Ein Unterrock aus Gazestoff und darüber ein Rock mit Plisseefalten – eine wahre Herausforderung. Dagegen sind die Spitzen an Kragen und Ärmeln fast schon harmlos.«
»Meine Näherinnen können es nicht«, gab Mary zu. »Selbst ich werde mich nur daran wagen, wenn du es partout nicht machen willst.«
»Ich bin nicht besser als du«, antwortete Lore nachdenklich.
»Doch, das bist du! Sonst würde ich dich nicht bitten, mir zu helfen. Ich weiß, Fridolin sieht es nicht gerne, aber ich will diese Kundin nicht verlieren.« Mary klang verzagt, denn um dieses Kleid zu nähen, hätte sie Ruhe und Zeit gebraucht. Doch die Führung des Modesalons erforderte ihre ganze Kraft.
Das war auch Lore klar. Noch einmal blickte sie auf die Zeichnung. Wenn sie ehrlich war, reizte es sie, sich an dem schwierigen Stück zu versuchen. Sie drehte beinahe durch vor Langeweile und war um jede Herausforderung dankbar. Zwar verbrachte Fridolin seit kurzem mehr Abende als früher zu Hause, aber es verblieben immer noch genug öde Stunden, in denen sie ins Grübeln kam, welchen Sinn es für sie machte, hier in Berlin zu leben. Für längere Spaziergänge oder ausgedehnte Einkaufsbummel war das Wetter noch zu schlecht, und Einladungen erhielt sie immer noch keine, obwohl Fridolin versprochen hatte, sich bei Grünfelder dafür zu verwenden, dass dessen Gattin sie in die hiesige Gesellschaft einführte. Es schien, als wollten Juliane und Wilhelmine Grünfelder nichts mit ihr zu tun haben. Lag es tatsächlich an den Gerüchten um ihre Beteiligung an Marys Modesalon, wie Fridolin behauptete?
»Bitte näh das Kleid für mich! Diese Arbeit wäre die beste Reklame für uns.« Marys Bitte riss Lore aus ihrem Sinnieren, und sie stieß hart die Luft aus. Wenn Mutter und Tochter Grünfelder sie für eine Schneiderin hielten, würde sie eben als solche arbeiten.
»In Ordnung! Aber dazu brauche ich mindestens eine volle Woche.«
Mary lächelte erleichtert. »Du hast alle Zeit der Welt zur Verfügung. Wie du selbst gesehen hast, sind die Stoffe, die die Dame ausgesucht hat, nicht gerade gut zu verarbeiten. Die könnte man auf keinen Fall mit einer dieser modernen Nähmaschinen nähen, die unsere Kundinnen so verabscheuen.«
Sie lachte bei dem Gedanken an die Frauen der höheren Gesellschaft, die maschinengenähte Kleider ablehnten, obwohl diese billiger waren, aber dennoch wie Marktweiber um den Preis feilschten. Schlagartig wurde sie ernst. »Ich weiß nur nicht, was wir machen sollen, wenn die Dame Änderungen wünscht. Du kannst ja schlecht die Anprobe vornehmen.«
»Fridolin würde toben, da hast du recht. Aber ich könnte ja zufällig als Kundin anwesend sein und mich für den Schnitt des Kleides interessieren.«
»Das würdest du für mich tun?« Mary fasste ihre Hände und presste sie sich gegen die Wangen. »Ach, Laurie, was täte ich ohne dich!«
»Dasselbe kann ich auch von dir sagen. Ohne dich und deine Familie hätte dieser elende Ruppert von Retzmann Nati und mich in Harwich oder spätestens in London umgebracht. Ihr aber habt uns Obdach gegeben und unsere Rettung ermöglicht. Das werde ich dir niemals vergessen.«
Lore zog ihre Freundin an sich und umarmte sie. Die entsetzlichen Stunden und Tage in England lagen mehr als fünf Jahre zurück, dennoch glaubte Lore in diesem Moment, die schnarrende Stimme von Nathalias Vetter zu hören, und schauderte.
Mary blickte sie besorgt an. »Laurie, Darling, was ist mit dir?«
Lore schüttelte den Kopf. »Nichts! Nur ein paar dumme Erinnerungen.«
»Du hast an diesen Schweinekerl Ruppert gedacht, nicht wahr? Damals wusstest du wenigstens, wer dein Gegner war. Hier in Berlin aber hält sich dein Feind verborgen.«
»Glaubst du wirklich, ich hätte einen Feind in dieser Stadt? Wir sind doch erst vor ein paar Wochen zugezogen. Und davor bin ich noch nie hier gewesen.«
Ihre Freundin winkte
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