Aprilgewitter
Zeit vergessen konnte.
Gregor Hilgemann missverstand sie jedoch. »Es ist wirklich schlimm, wie der freie Menschenwille in Preußen und auch im Rest von Deutschland von Tag zu Tag stärker unterdrückt wird. Wer die entsetzlichen sozialen Verhältnisse anspricht, gilt sogleich als Aufrührer und wird verhaftet. Sie haben wahrscheinlich noch nicht mit eigenen Augen gesehen, wie elend die Menschen hier leben, die mit ihrer Hände Arbeit den Reichtum der Fabrikbesitzer und Geschäftsleute erst ermöglichen. Sie hausen in finsteren Löchern, die nie ein Sonnenstrahl erreicht, oft in vier, fünf Häusern hintereinander mit Innenhöfen, die gerade groß genug sind, dass sich ein Pferd darin umdrehen kann. Viele Familien können sich keine menschenwürdige Wohnung leisten, sondern drängen sich in einem Zimmer zusammen und teilen sich mit einem Dutzend anderer Familien Küche und Abort. Sie haben weder die Möglichkeit, sich richtig sauber zu halten, noch können sie sich genug Nahrung leisten. Viel zu viele müssen daher Hunger leiden.«
»Herr Hilgemann hat recht«, stimmte Caroline ihm zu. »Die Etage, auf der wir wohnen, gehört einer Witwe von Stand, die gezwungen ist, alle Zimmer bis auf zwei zu vermieten, um vom Mietzins leben zu können. Das Zimmer, in dem ich mit meiner Mutter und unserer alten Fiene lebe, liegt im Kreuzungspunkt zweier Häuserzeilen. Wir haben daher an allen vier Wänden Nachbarn, und es gibt nur ein einziges, winziges Fenster auf einen der Innenhöfe hinaus. In dem Raum ist es so düster, dass wir den ganzen Tag die Gaslampe brennen lassen müssen. Leider sind wir zu arm, um die Lampe so hell aufzudrehen, wie es nötig wäre. Daher komme ich zum Nähen hierher.«
»Das könnten Sie doch auch bei mir tun! Sie wollten doch nicht mit dem Modesalon in Verbindung gebracht werden.« Lore konnte nicht verhehlen, dass sie enttäuscht war, hatte sie doch selbst auf Carolines Gesellschaft gehofft.
Diese wagte es nicht, sie anzusehen. »Ich wollte Sie nicht über Gebühr belästigen, Frau von Trettin. Sie hätten sonst immer die Zwischenträgerin zwischen Mrs. Penn und mir spielen müssen.«
»Das hätte ich doch gerne getan!« Lore ärgerte sich ein wenig über sich selbst, aber auch über Caroline und Mary, die sie aus übertriebener Rücksichtnahme ihrer Einsamkeit überlassen hatten.
Das schien auch Mary zu begreifen. »Es tut mir leid, liebe Laurie. Aber da dein Mann nicht gerne sieht, dass wir beide Partnerinnen sind, habe ich Fräulein von Trepkow vorgeschlagen, zu mir zu kommen. Natürlich kann sie genauso gut bei dir nähen!«
Lore überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich ebenfalls hierherkomme. Fridolin wird mir wohl kaum verbieten können, meine beste Freundin aufzusuchen. Außerdem habe ich hier nicht unser Dienstpersonal am Hals. Wir drei können gemeinsam nähen und uns dabei unterhalten.«
»Aber du hast doch eines der Mädchen mitgebracht!«, wunderte Mary sich.
»Jutta weiß, dass ich nähe, und wird nichts herumtragen. Ich meine Nele und Jean, die so tun, als hätten sie vorher bei Herzogs gearbeitet. Die beiden geben mir das Gefühl, als müsse ich ihnen dankbar sein, weil sie sich zu meinem Haushalt herabgelassen haben!«
Lores Miene war abzulesen, dass sie die zwei am liebsten wieder losgeworden wäre. Aber die Arbeit war für Jutta allein zu viel, und ob die Stellenvermittlerin ihr etwas Besseres ins Haus schicken würde, bezweifelte sie.
Mary überlegte kurz und reichte dann Lore eine Bluse, deren Ärmelbündchen noch angenäht werden mussten. »Wärst du so lieb, dies für mich zu tun, Laurie? Sie ist für die ältere Tochter des Kommerzienrats Rendlinger. Die Dame zählt seit kurzem ebenfalls zu unseren Kundinnen.«
X.
E s dämmerte bereits, als die traute Runde voneinander schied. Während Lore und Jutta nur das kurze Stück Weg vor sich hatten, welches sie von ihrem Heim trennte, musste Caroline bis zur Möckernstraße fast die halbe Stadt durchqueren. Da sie sich keine Droschke leisten konnte, erbot Gregor Hilgemann sich, sie zu begleiten.
»Das ist nicht nötig«, wehrte Caroline ab.
»Um diese Zeit würde ich weder meine Schwester noch eine andere hübsche junge Frau allein durch die Stadt gehen lassen.«
»Gregor hat recht«, stimmte Konrad ihm zu. »Hätte er Ihnen nicht seine Begleitung angeboten, würde ich es tun.«
Caroline kamen vor Rührung beinahe die Tränen. »Sie machen sich alle so viele Umstände um
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