Aqua
Lenkrad.
Sie lehnte sich zurück und presste beide Hände an ihre Schläfen. Als sie in die Tasche ihres Kapuzenpullis griff, war ihr erster Gedanke, ihren Vater anzurufen. Sie ertastete nur ein zerknülltes Papiertaschentuch.
Die Fließgeschwindigkeit des Wassers war weit höher, als sie es vorhin für möglich gehalten hätte. Der Wagen vibrierte, als stünde er auf einer Rüttelplatte bei der TÜV-Überprüfung. Nebenan hämmerte Eva auf die Taste ihres Fensterhebers.
»Das bringt doch nix«, sagte Silvana. »Die ganze Elektrik ist im Eimer.«
»Ich krieg keine Luft. Kannst du das Verdeck …«
»Auch wenn ich wollte, es geht nicht«, sie bemühte sich, ruhig zu antworten, obwohl ihr ebenfalls auf einmal die Enge in dem kleinen Zweisitzer bewusst wurde. »Wir haben genügend Luft. Ruf lieber mal jemanden an.«
»Ich kriege wirklich keine Luft …« Eva fasste an den Türgriff.
Silvana ergriff blitzschnell den Arm ihrer Freundin und zog sie zu sich herüber.
»Ganz langsam atmen, lege dir eine Hand auf den Bauch«, sie drückte ihr die eigene Hand gegen den Bauch, ohne das Handgelenk loszulassen. »Einatmen und ausatmen … und wieder einatmen … spürst du, wie er sich langsam hebt und senkt?« Eva hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf ihre Atmung.
Silvana wartete geduldig, während das Wasser über den Wagen kratzte, als wären kleine harte Partikel darin. »Und nun gib’ mir deine Handtasche.«
»Warum?«
»Ich brauch’ dein Handy.«
Eva fingerte mit geübtem Griff ihr Handy aus der Handtasche im Fußraum. »Leer«, war ihr lakonischer Kommentar, als sie auf das Display schaute.
»Bist du sicher?«
Silvana sah an der nickenden Freundin vorbei auf den Ort gegenüber, wo das Wasser bis an die ersten Häuser reichte. Sie wirkten verlassen. Das war kein gutes Zeichen.
Sie lebte seit ihrer Geburt hier und wusste, dass sich die Leute für gewöhnlich nicht so schnell vom Hochwasser aus den Häusern vertreiben ließen.
»Was machen wir jetzt?« Eva hatte sich schon wieder die Hand auf den Bauch gelegt und den Mund geöffnet.
»Man wird uns über kurz oder lang von drüben sehen.« Sie glaubte selbst nicht so recht daran, was sie da sagte. Die hohen Leitplanken und das aus dem Wasser ragende Geäst des Uferbewuchses verdeckten die Sicht. Zudem war das dunkelblaue Dach des Wagens nicht unbedingt ein Blickfang.
»Wir müssen winken«, keuchte Eva vom Beifahrersitz und zuckte zusammen, als es hinter ihnen krachte. Silvana glaubte zuerst, von hinten wäre ein Wagen aufgefahren, aber dann löste sich der Ast, der den Wagen getroffen hatte, schrappte langsam und polternd an der Fahrerseite vorbei und nahm vor dem Wagen wieder Fahrt auf.
Eva drückte die Handflächen an die Scheibe und versuchte sie herunterzudrücken. Sie gab keinen Millimeter nach. »Wir müssen sie einschlagen … und dann mit etwas winken … und rufen …«
Sie löste von Hand die Verriegelung des Daches, was zur Folge hatte, dass es nun von oben tropfte.
Eine Sirene heulte auf, dann noch mal und ein drittes Mal, so laut, dass sie nur von gegenüber aus dem Dorf kommen konnte. Die jungen Frauen waren erleichtert, aber zum Abklatschen bestand kein Grund.
Es war das erste richtige Hochwasser, das Josef Tränkle hier erlebte. Vor drei Jahren, als er die Richterstelle am Amtsgericht in Trier antrat, hatten sie das Haus in dem idyllischen Moseldorf gekauft, seine Frau und er. Der Garten und der in Sichtweite fließende Fluss hatten dabei wichtige Kaufanreize dargestellt. Sie waren davor gewarnt worden, dass die Mosel bis zum Haus vordringen könnte. Vor zwanzig Jahren, so hieß es, stand nicht nur der Keller unter Wasser, auch das Parterre soll fast einen Meter überflutet worden sein. Selbst die Fahrt nach Trier war damals für ein paar Tage nur über Umwege möglich gewesen. Und nun war die Mosel bis zum Rand des Gartens vorgedrungen und würde sich ihn, wenn die Prognose des Wasser- und Schifffahrtsamtes eintraf, in den nächsten vierundzwanzig Stunden einverleiben, so wie der Fluss es bereits mit den Uferwiesen ringsum und der Straße auf der anderen Flussseite getan hatte.
Ausgerechnet jetzt war seine Frau zur Kur und verpasste dieses Schauspiel, diese Urgewalt, die bei ihm Faszination, aber auch Angst auslöste. Bis auf den schweren Kaminofen war alles aus dem Parterre geräumt worden. Seit gestern saß Tränkle die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer am Fenster, wohin er sich seinen Ohrensessel geschoben hatte
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