Aqua
Stoßkraft zu gewinnen.
Wo er jetzt stand, schätzte Walde das Gelände mindestens einen Meter höher. Er glaubte sich zu erinnern, dass der Anstieg des Pegels derzeit mit neun Zentimetern pro Stunde angegeben wurde. Er wandte sich in die andere Richtung und ging zum Parkhaus. Vielleicht hätte er seinen Rechner noch in den Wagen von Grabbe und Burkhard packen sollen? Es regnete nicht, dafür war es so dunkel geworden, dass es Walde an die letzten Minuten vor der Sonnenfinsternis erinnerte, die er Vorjahren einmal miterlebt hatte.
Das Geheul der Martinshörner, hin und wieder übertroffen vom Knattern tief fliegender Hubschrauber, war aus allen Himmelsrichtungen zu hören und ließ nicht mehr nach.
Walde musste einem auf dem Bürgersteig bis nah an die Hauswand geparkten Lkw auf die Straße ausweichen. Metallgerüste wurden klirrend davon abgeladen. Noch während er überlegte, warum in dieser Situation noch ein Haus eingerüstet wurde, erkannte er, dass ein hoch gelegener Steg für Fußgänger errichtet wurde.
Eine Schranke versperrte die Einfahrt, durch die er vorhin noch ins Parkhaus gefahren war. An den Säulen hingen Plakate. Auf rotem Grund wurde dort das mitgeteilt, was vorhin bereits von dem Lautsprecherwagen bekannt gegeben worden war.
Auf dem Gebührenautomaten prangten zwei Worte: AUSFAHRT FREI.
Ein paar Meter weiter ließ sich ein junges Paar von einem englisch radebrechenden Parkhausangestellten den noch freigegebenen Weg aus der Stadt erklären. Aus einer Ausfahrt der Tiefgarage war aufheulendes Motorengeräusch zu hören. Ein Caddy mit sehr breiten Reifen und einen an der Vorderachse angehobenen Pkw an einem Minikran hinter sich herziehend kam zum Vorschein. Nach dem Erreichen des Parkdecks im Parterre bog er gleich in die Serpentinen der Auffahrt in die höheren Stockwerke ein, eine nasse Spur hinterlassend. War da unten schon Wasser eingedrungen?
»Parken Sie in den Untergeschossen?«, wandte sich der Parkhausangestellte von den beiden Touristen ab.
»Nein oben«, sagte Walde.
»Schade.«
»Warum?«
»Dann hätten wir wieder ein Problem weniger, da unten läuft so langsam der Keller voll.«
»Sind da noch viele Autos?«
Der Wagen von eben kam laut klappernd in flottem Tempo wieder die Abfahrt hinunter gesaust. Seine Fracht hatte er in einer der oberen Etagen gelassen.
»Mehr als der noch schaffen wird«, antwortete der Mann und schaute dem Abschleppwagen nach.
Auf dem Weg zur Treppe überlegte Walde, ob er den Wagen nicht besser hier lassen sollte, doch dann verwarf er den Gedanken. Er brauchte das Auto möglicherweise, um Doris und die Kinder in Sicherheit zu bringen.
In der Nacht hatte Vera Helmes lange wach gelegen. Manchmal gab es in ihrem Leben Phasen, in denen sie schlecht schlief, mitten in der Nacht die kleinsten Sorgen immer größer wurden und sie nicht mehr einschlafen ließen. Im Moment wurden die Probleme auch bei Tageslicht nicht kleiner. Nach Brödings Tod hatte sie allen Grund, sich um ihre berufliche Zukunft zu sorgen.
Gegen Morgen war sie vor Erschöpfung eingeschlafen. Leo, ihr Mann, war leise aufgestanden, aber gleich darauf war sie vom Krach auf der Straße geweckt worden. Noch bevor das Altenheim nebenan evakuiert wurde, hatte man schon mit dem Errichten der Notstege begonnen, Sandsäcke herangekarrt und dann war auch der Lautsprecherwagen gekommen.
Leo wollte in dieser Situation erst zu Hause bleiben. Sie hatten etwas länger als sonst an einem Wochentag gefrühstückt, und dabei konnte sie ihn davon überzeugen, zur Arbeit auf den Petrisberg zu fahren. Im Zweifelsfall würde er in einer Viertelstunde wieder zurück sein. Ihr Sohn weilte zum Schüleraustausch in England.
Mit dem Gedanken, ob es noch lange genug Strom geben würde, räumte Vera das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. Kerzen hatte sie nicht extra kaufen müssen, davon gab es immer genügend in der Wohnung. Gegen neun Uhr wurde ihr bewusst, dass sie von unten aus dem Parterre, wo eine der vielen sozialen Beratungsstellen in dieser Straße arbeitete, noch nichts gehört hatte. Neben dem Ploppen der automatisch schließenden Haustür war es das Mahlen der Kaffeemaschine, das an Wochentagen bis hier oben zu vernehmen war. Gestern Abend war fast das komplette Mobiliar in einen Lastwagen verladen worden. Leo und sie hatten derweil die Dinge aus ihrem Kellerraum geborgen, die ihnen rettenswert erschienen waren.
Das Aufheulen einer Bohrmaschine ließ sie zusammenzucken. Das Geräusch klang so
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