Aqualove
Mann von den Wasserwerken ist da. Diese armen Menschen müssen jetzt unbescholtene Bürger sogar am Wochenende belästigen. Ich muss ihn in den Keller begleiten, ansonsten zahlen wir wieder für den Wasserverbrauch einer Kleinstadt. Wenn wir Pech haben, zapft er noch eine unserer Leitungen an, und von da ab wird irgendjemand überwachen, was wir fernsehen und mit wem wir telefonieren.“
„Okay, Ma. Dann stelle dich mal schützend vor die Rechte der zu Unrecht verfolgten Bürger in unserem Land. Ich muss jetzt ohnehin gleich mein Essen aus dem Ofen holen. Toll, dass du dich gemeldet hast.“
„Es war schön, mir dir zu sprechen. Pass auf dich auf. Bis bald, Nia.“
„Tschüss, Ma!“
Meine Mutter war nicht nur eine Verschwörungstheoretikerin. Sie litt offensichtlich an Verfolgungswahn, gepaart mit paranoiden Zügen. Ich war mit ihrem Verhalten aufgewachsen und hatte mich vor allem in der Pubertät furchtbar darüber aufgeregt. Wir hatten keine Kundenkarten, weil ihrer Ansicht nach damit unsere Daten missbraucht, unser Kaufverhalten überwacht worden wären. Wir hatten keine Satellitenschüssel, sondern nur eine jämmerliche Antenne, um nicht zur Zielscheibe nationaler oder internationaler Spionage zu werden. Wir gingen nicht zum Arzt, weil meine Mutter vermutete, wir würden auf Krankheiten behandelt werden, die wir nicht einmal hatten, nur um das Gesundheitssystem zu finanzieren und den Wohlstand der Ärzte zu mehren. Sie war der festen Überzeugung, der in unserem Vorort praktizierende Arzt, Dr. Whang, unterhielt ein geheimes Forschungslabor, in dem er mit den Blutentnahmen der unschuldigen Patienten herumexperimentierte. Ihr Lebensmotto war: Hinterlasse keine Spuren, falle nicht auf!
Nur um meine Mutter herauszufordern, spielte ich am wildesten und gefährlichsten. Ich war mir sicher, wenn es wirklich sein müsste, würde sie mich schon zum Arzt bringen. Kein Baum war zu hoch, kein Abhang zu steil. Mein Schutzengel musste ganze Arbeit leisten. Ich war acht Jahre alt. Als ich mit meinen Freunden wieder einmal die Abfahrt von der nahe gelegenen Mülldeponie mit dem Fahrrad hinuntersauste, rutschten die Räder auf dem Schotter weg, der von den Lastwagen an den Rand der Straße geschleudert worden war. Heulend und großflächig an Arm und Bein aufgeschürft, schob ich das Rad nach Hause. An einem Stein hatte ich mir den Ellbogen aufgeschlagen. Der Riss blutete ordentlich, und meine Freunde hatten mir versichert, dass das auf jeden Fall genäht werden müsste. Andere Mädchen meines Alters hätten nun Höllenqualen mit der Aussicht auf mehrere Stiche im Arm ausgestanden. Trotz der Heulerei freute ich mich insgeheim. Jetzt war es endlich so weit: Ich würde heute zum ersten Mal in meinem Leben zum Arzt gehen!
Als wir zu Hause ankamen, nahm meine Mutter mich in den Arm und schickte meine Freunde nach Hause. Dann besah sie sich den Schaden, holte ihr Do-it-yourself-Doktor-Buch aus dem Regal und eine Packung Erdbeerbonbons.
„Das muss genäht werden“, stellte sie fachmännisch fest.
Ich erhob mich, um zum Auto zu gehen.
„Bleib hier und setz dich, Kind.“ Ich sank wieder zurück auf den Küchenstuhl. Im Bad hörte ich sie im Schrank wühlen. Sie kam mit einer kleinen Tasche Nähzeug zurück, schlug das Buch auf, machte den Fernseher an und sagte: „Das wird jetzt etwas wehtun. Schau dir einfach den Film an. Nimm so viele Bonbons, wie du essen kannst.“
Dann holte sie Nadel und Faden heraus, zündete eine Kerze an, erhitzte die Nadel im blauen Teil der Flamme. Jetzt hatte ich wie alle anderen Kinder Angst. Aber die Aussicht auf eine ganze Packung Bonbons mit Erdbeersahnegeschmack hielt mich davon ab, aufzuspringen und davonzurennen. Hinterher war man immer klüger. Sie fuhr noch einmal kurz mit dem linken Finger über den entscheidenden Abschnitt im Buch und nähte den Riss mit drei Stichen. Ich schrie wie am Spieß, aber meine Mutter hatte ihren üblichen „Darüber lasse ich nicht mit mir reden“-Gesichtsausdruck aufgesetzt. Widerstand war zwecklos.
Jetzt schob ich in Erinnerung an diese Minuten den Ärmel meines linken Arms hoch und suchte nach der Narbe. Nur noch eine leicht weißlich schimmernde Linie ließ die sach- und fachgerechte Näharbeit meiner Mutter erkennen. Wir hatten uns in der Familie alle mit dem Verfolgungswahn meiner Mutter abgefunden, zumal sie sehr konsequent und pragmatisch damit umging. Ansonsten unterschied sie sich nicht von anderen Müttern. Sie war liebe- und humorvoll,
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