Aquila
ließ das Floß los und stieß es zur Seite. »Das hole ich morgen.«
Vom Regen gepeitscht, hielten sie sich mit eiskalten Gesichtern zitternd und zähneklappernd im Arm, während draußen auf dem Wasser der gelbe Lichtschein verschwunden war, ohne dass sie es gemerkt hatten.
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»Gott sei Dank, wir sind hier«, flüsterte sie unter Tränen der Erleichterung. »Und du hältst mich fest …«
»Wir sind jedenfalls in Sicherheit. Alles in Ordnung mit dir?«
»Klar. Ich bin ein zähes kleines Luder.« Lachend wischte sie sich die Nase. »Suchen wir den Pfad.« Sie nahm die Lampe, er griff sich die Tasche, der er einen ordentlichen Tritt in die Seite versetzte. Dämliches Teil! Es hatte sich mittlerweile zu einem grotesken Auswuchs seiner rechten Hand entwickelt.
Sie stemmten sich gegen den Wind, die Regenmäntel über den Kopf gezogen. Vor ihnen tanzte der Lichtkegel der
Taschenlampe, der den Weg wies. Hinter dem Strand ragten dunkelgrün und im Regen verschwommen die Klippen auf. Er roch nur die feuchtkalte Luft und die klamme Wolle seines Pullovers. Mitten im Sand gab es glatte, vereiste Stellen, so dass sie nur quälend langsam vorwärts kamen, begleitet von Chandlers lauten Flüchen – eine Abwechslung nach der entsetzlichen stummen Angst im Flugboot und auf dem Floß.
»Heiliger Bimbam«, motzte er, als Polly die Lampe nach oben richtete, »ist das steil!« Er ließ die Tasche fallen, die auf den Strand zurückrollte. »Verdammt steil. Ich bin doch keine Bergziege!«
»Dann meckere auch nicht. Damit machst du’s nur
schlimmer.« Sie leuchtete den Pfad aus. »Ich gebe ja zu, dass es steil ist.«
Wie es schien, stieg der Pfad fast im rechten Winkel zum Strand an. Er schlängelte sich zwischen kargen nassen Büschen und trügerisch glänzenden Felswänden nach oben. Chandler packte zum x-ten Mal die Tasche und begann den Aufstieg.
Bei der mühseligen Kletterei boten moosbedeckte Steine seinen Händen gelegentlich Halt. Der Boden war nicht nur rutschig und matschig, sondern auch teilweise vereist – ein Zustand, den der Regen noch verschlimmerte, der stetig den Pfad herunterrann und ebenso stetig in seinen Kragen. Vom Laufen in den nassen Schuhen bekam er wunde Füße. Oft kroch 277
er auf allen vieren damit er nicht Hals über Kopf mit der Leinentasche auf den Strand zurückrollte. Mein Gott, wie lange noch?
»Willst du wissen, warum wir hier hinaufklettern?«, ächzte Polly hinter ihm. »Weil es einen Weg gibt!«
Chandler versuchte zu lachen, aber sein Mund war so trocken dass er keinen Ton heraus brachte. Außerdem war er sowieso zu müde zum Lachen. Der Aufstiegswinkel schien nie flacher zu werden, es ging einfach so nass und eisig und matschig weiter.
Was in drei Teufels Namen, hatte er getan, um so leiden zu müssen?
»Leuchte nach oben, verdammt noch mal«, rief er, »ich will sehen, wo wir sind!«
»Sei nicht so gereizt, Colin. Du verdirbst alles. Das hier ist ein Abenteuer –«
»Scheiße!«, rief er, als er plötzlich zurückrutschte. Er hielt die Tasche an sich gepresst, sein anderer Arm ruderte wild durch die Luft, bis er an einem Steinbrocken wieder Fuß fasste.
»Komm schon, Sherpa, wir sind fast oben.«
»Erspar mir den Frohsinn«, bat er. »Den ertrage ich jetzt nicht.«
»Dein ganzes Gesicht ist voller Dreck.«
»Ach ja. Ist vermutlich passiert, als ich die Tasche mit der Nase vor mir her schob. Im Übrigen, mein liebes Kind, habe ich Dreck an Stellen, die –«
»Wusste gar nicht, dass du Stellen hast. Na so was.«
Keuchend lag er da, die Tasche an seinen verdreckten Regenmantel gepresst. »Stimmt aber.« Sie setzte sich neben ihn, zog die Knie an und stützte ihr Kinn darauf.
»Vielleicht sollten wir eine kleine Pause machen«, schlug sie vor. Dann leckte sie die Regentropfen von ihrer Oberlippe und sah ihn an. »Manchmal kann ich mich nicht erinnern, wie wir hierhergekommen sind.«
Chandler grummelte: »Clark Gable und Claudette Colbert …«
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Nach einer Weile holte sie tief Luft und sagte: »Geht’s jetzt wieder?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Nimm du die Lampe. Ich schiebe die Tasche.«
»Kommt nicht in Frage, mein Schatz. Ich bin zwar klapprig, aber noch nicht tot.« Er erhob sich, gefährlich schwankend.
Beim zweiten Start ging es rascher. Zehn Minuten
Schwerarbeit brachten sie an den Rand der Klippe, wo sie keuchend auf dem dunklen Grasboden stehen blieben und die kalte Luft in ihre geplagten Lungen sogen. Hundert Meter weiter erkannten sie undeutlich
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