Aquila
eine Maschine, die ihr Überlebensprogramm abspult. Es kam ihm so vor, als hätte er sich nie so schnell bewegt. Seine Füße in den Hausschuhen berührten kaum den Boden. Sein Herz war eine mit Volldampf arbeitende Maschine. Sein Adrenalinausstoß versorgte ihn mit einem Energieschub, von dem er im Leben nie geträumt hätte.
Im Nu war er aus dem Zimmer, durch die Eingangstür und an dem Baum vorbei durch den Vorgarten gelaufen. Mit blutigem Gesicht, mit offenem Bademantel und dem Schlafanzug darunter rannte er wie der Teufel rechts die Hawthorne Street entlang. Erst zwei Querstraßen weiter lief er langsamer, weil er schmerzhaftes Seitenstechen bekam. Schließlich blieb er, an einen Briefkasten gelehnt, im gelben Schein der Straßenlampen stehen. Der Gehsteig war leer. Langsam fuhr ein Auto in Gegenrichtung an ihm vorbei. Er sah auf seine Rolex. Seine Beine zitterten, sein Blick war verschwommen, sein Mund trocken und voller Blutgeschmack. Das Blut gerann ihm auf dem Gesicht. Als er zurückblickte, sah er keinen Menschen.
Vergeblich versuchte er, wieder zu Atem zu kommen. Ihm wurde klar, dass sie ihn nicht verfolgten – nicht verfolgen konnten. Er grinste unter Schmerzen in sich hinein, denn er war zufrieden mit sich und mit seinem Werk. Dann stolperte er die Brattle Street hinunter, bog nach links in die Mason Street ein und hielt auf die diffuse Beleuchtung des Radcliffe Courtyard zu. Er stieg die Treppe zwischen den weißen Säulen hinauf, 92
dann wieder hinab in den dunklen Klosterhof, um den sich die Universitätsgebäude gruppierten. Mit einem letzten Rest an Würde zog er den Gürtel des alten Bademantels fester und marschierte entschlossen aus dem Schutz der Büsche ins Freie.
Die leicht diesige Nachtluft war nasskalt. Man konnte seine Atemwolken sehen. Er fand ein benutztes Kleenex in der Tasche und tupfte sich damit vorsichtig die Nase ab. Als er über die Oberlippe leckte, spürte er eine dünne Blutkruste unter den Nasenlöchern. Er wurde immer noch von seinem
Adrenalinschub getrieben. Seine Beine bewegten sich automatisch, das Herz klopfte wie wild. Inzwischen war es fast Mitternacht. Für Uneingeweihte war er ein Mann voller Blut im Gesicht, der im Bademantel im Radcliffe Courtyard
umherwankte. Sein Ohr brannte wie Feuer. In seinem Haus in der Acacia Street sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Mein Gott … Er fing wieder an zu zittern, aber diesmal nicht vor Angst oder Schmerzen, sondern vor Wut. Vor so immenser Wut, dass er sich kaum wiedererkannte. In einer Mordsache passiert immer etwas – so hatte sie es ausgedrückt. Aus ihrer Erfahrung heraus konnte man fast meinen, sie wollte ihn warnen.
Er kam an einem eng umschlungenen jungen Pärchen vorbei, das sich überhaupt nicht um ihn kümmerte. Chandler war nicht mehr der Jüngste: Das Stechen in seiner Seite hörte nicht auf, und er atmete immer noch schwer. Das alles war nichts für ihn.
Als er sich mitten im Innenhof befand, hörte er es Mitternacht schlagen.
Er setzte sich auf eine Bank und ließ den Kopf eine Weile zwischen den Knien hängen. Dann lehnte er sich zurück, atmete tief die Nachtluft ein und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht. Er betete, dass ihn kein Wachmann finden würde. Er brauchte Ruhe … Die verfluchten Scheißkerle, dachte er, als er die zerschmetterte George-Washington-Büste vor sich sah. Ich hab’s ihnen heimgezahlt.
Wie durch ein Wunder zog er sich keine tödliche
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Lungenentzündung zu, während er auf der schmalen Bank saß, die sich um einen Baumstamm wand, welchen er aufgrund eines Schilds – datierend von 1923 – als einen dem Andenken der Eltern einer gewissen Miriam H. Kramer gewidmeten Ahorn identifizierte. Nachdem er die Inschrift im trüben Schein der Innenhoflampen entziffert hatte, zog er den Bademantel enger um seinen klammen, schnell auskühlenden Körper. Später konnte er sich nicht entsinnen, eingenickt zu sein, aber irgendwie schlug es plötzlich eins. Hatte er wirklich wie ein Idiot eine Stunde lang zähneklappernd dagesessen?
Anscheinend. Vielleicht war er ohnmächtig geworden. Er war nicht an sportliches Training gewöhnt – ganz zu schweigen von nacktem Terror.
Als er wieder bei vollem Bewusstsein war, bedachte er seine Lage. Es wurde ihm klar, dass er keine Lust hatte, den sicheren Bereich des Innenhofs zu verlassen. Die beiden Monster, die ihn überfallen hatten, würden sicher nicht untätig bleiben und bis zum Morgen ihre Wunden lecken. Der Große musste
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