Aquila
natürlich musste sie überhaupt nicht. Sie konnte Gott-weiß-wohin geflogen sein. Oder er suchte zwanzig Zentimeter daneben, oder sie fiel ihm vielleicht in die Hände, und er erkannte sie nicht. Eigentlich wäre es ein Wunder, wenn er sie finden würde. Das Wunder geschah: Er hielt sie zwischen 96
seinen dreckigen, klebrigen Fingern.
Nass, zerknüllt und schmutzig: die Visitenkarte, die er angewidert weggeworfen hatte. Er glättete sie mit zittrigen Händen. Die eisige Nachtluft umhüllte ihn wie ein Leichentuch.
Polly Bishop .
Ihre Telefonnummern im Studio und zu Hause, ihre Anschrift.
Beacon Hill – wo sonst?
Er eilte zurück über die Mass Avenue und schlich sich vor der Bank an ein Taxi heran. Bevor der ahnungslose Fahrer seine seltsame Kostümierung erkennen und ihn rausschmeißen konnte, sprang er rasch auf den Rücksitz. Wozu der Mensch nicht alles fähig war! In seinem Fall dazu, sich in die Chestnut Street auf Beacon Hill kutschieren zu lassen.
Chestnut Street. Eine der geschichtsträchtigsten Straßen Bostons, in der er immer wieder herumgewandert war.
Bullfinch, Jim Curley, John Marquand – lauter berühmte Namen, die damit in Verbindung standen. Er kauerte sich auf dem Rücksitz zusammen und wünschte, es wäre wärmer.
Inzwischen war es zwei. Er hatte keinen Pfennig Geld, und er konnte nicht aufhören zu zittern. Er war einfach zu alt für solche Eskapaden. Als wäre er je im passenden Alter für so etwas gewesen! Die Straßenlampen glitzerten und spiegelten sich in der Nässe. Er kam sich vor wie in einem Film, was ihn freilich nur kurzfristig trösten konnte. Das Taxi bog von der Beacon Street ab und drang durch den Nebel in die Chestnut Street ein.
Der Fahrer suchte nach der Hausnummer und hielt schließlich an.
Chandler verließ das Fahrzeug so rasch wie möglich. Er präsentierte sich in Schlafanzug und Bademantel.
»Scheiße«, meinte der Fahrer, nachdem er zweimal
hingesehen hatte.
»Kommen Sie. Kein Grund zur Aufregung. Lassen Sie sich nicht davon verdrießen, dass ich im Augenblick nicht flüssig bin. Bitte, gedulden Sie sich einen Moment –« Er deutete auf 97
den schmalen zurückgesetzten Eingang und auf das erleuchtete Erkerfenster im zweiten Stock.
»Warum gerade ich«, räsonierte der Fahrer verzweifelt. Mit seinem üppigen Bart, der an den Mundwinkeln eine fallende Tendenz zeigte, erinnerte er Chandler an einen Komiker aus dem Fernsehen. »Scheiße …«
Chandler stolperte über den Bordstein und fing sich wieder. Im Dunkeln tastete er nach dem Klingelknopf. Na komm schon, Polly-Mädchen … Er ließ seinen Finger länger darauf ruhen. Es roch nach nasser Erde aus Blumenkästen. Von einer nahen Dachkante tropfte es in gleichmäßigen Abständen. Er schrie unterdrückt auf, als etwas an seinem Knöchel vorbeistrich. Eine Katze miaute. Er nahm den Finger nicht vom Klingelknopf.
»Beeilen Sie sich, Mann. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«
»Es geht um Ihr Geld, Sie Blödmann«, erboste sich Chandler.
»Hauen Sie doch ab, wenn Sie wollen! Kein Wunder, dass Sie Taxifahrer sind!«
»Werden Sie nicht persönlich, Sie Arschloch!« Er machte die Tür auf. »Was sind Sie denn, hä? Mit dem Kleid? ’Ne Tunte oder was?«
»Miss Bishop!«, brüllte Chandler. »Schauen Sie runter! Ich bin’s!« Er trat zurück auf den Gehsteig, wo sie ihn hoffentlich sehen konnte. »Colin Chandler von Harvard – hier unten!«
»Hätt’s mir denken können. Hahvert. Oh, Mist!«
»Miss Bishop!«, schrie er. »Machen Sie die gottverdammte Tür auf!«
Wie durch ein Wunder ging die schmale Tür auf, und sie stand im Flurlicht da. Er nahm an, dass sie es war, denn das Licht kam von hinten. Sie trug einen Bademantel. Unerklärlicherweise kniete sie sich hin. Anscheinend redete sie in irgendeinem Code.
»Ezzard«, gurrte sie, »du kleiner Räuber … Mein frecher kleiner Draufgänger!« Der Kater sprang auf ihren Arm.
»Miss Bishop –«
»Ja, Professor Chandler«, sagte sie ruhig, während sie der 98
Katze über das dichte feuchte Fell strich. »Ich habe sie schreien hören. Warum bezahlen Sie den jungen Mann nicht und lassen ihn wegfahren? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Ezzard wieder da ist. Er war fast eine Woche verschollen.
Haben Sie ihn gefunden?«
»Lady«, meinte der Taxichauffeur, der nun neben Chandler auf dem Gehsteig stand, »schauen Sie sich den Mann an. Er trägt so was wie einen Bademantel.«
»Man nennt das Hausmantel, Bruder«, sagte
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