Aquila
in die Höhe, wenn er aufgeregt war. Er bat mich in sein Büro. Während ich Tee aufgoss, sackte er in seinen Sessel und erzählte mir, sie hätten gerade im Radio gemeldet, dass Bill Davis auf der Straße ermordet worden sei.« Ihre dunkelblauen Augen hefteten sich auf Chandlers Gesicht, als könne er sich die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens erklären: Sie waren sein Professor, schien sie zu sagen, Sie müssen doch den Grund kennen … Chandler schüttelte den Kopf.
»Nat war ganz außer sich. Er sagte, Bill habe einen Tag zuvor ein wertvolles Päckchen bei ihm hinterlegt. Er wollte mit Ihnen darüber reden, Professor Chandler. Er sprach von einem Dokument. Ich war erschrocken, als ich ihn halb im
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Selbstgespräch sagen hörte, er habe so eine Ahnung, dass es bei dem Mord an Bill eine Rolle spielte.« Die Erinnerung ließ sie schaudern.
»Wissen Sie etwas Näheres über das Dokument?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Nat sprach von Anfang an nur sehr zurückhaltend darüber.«
»Und wann war das?«, warf Polly ein.
»Na ja, Nat wusste seit dem Herbst davon. Seit Bill ihn zum ersten Mal besuchte. Er war ganz aufgeregt, als er mit mir darüber sprach. Im Winter hat er’s sogar zu einem Kongress der Antiquare nach Bukarest mitgenommen. Ja, er war wirklich stolz darauf.«
Sie überlegte einen Moment. »Ich glaube jedenfalls, dass er es mitgenommen hat. Wenn nicht, plante er zumindest, ein paar alten Freunden davon zu erzählen. Als er aus Bukarest zurückkam, gab er Bill den Rat, das Dokument offiziell von Ihnen verifizieren zu lassen, Professor Chandler. Aber Sie wissen, wie die Studenten sind: Er hat’s nicht gleich erledigt …
und jetzt sind beide tot …«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie die Fassung verlieren. Doch ihre robuste neuenglische Natur setzte sich durch, wie Chandler dankbar vermerkte.
Im Drugstore ging es zu wie auf dem Jahrmarkt – er hatte so etwas noch nie gesehen. Anscheinend diente das Geschäft den Leuten aus Lexington als Supermarkt. Man meinte, alle könnten ihr Gespräch mithören; doch in Wirklichkeit machten sie selbst zu viel Lärm, und jeder war mit sich beschäftigt. Nora sprach inzwischen weiter.
»Als Nat von dem Mord gehört hatte, wollte er das Päckchen nicht mehr behalten. Bills Eltern wollte er es nicht geben. Er hätte ihnen zu viel erklären müssen, mitten in ihrer Trauer.
Deshalb beschloss er, es jemandem zu schicken. Ich musste ihm Verpackungsmaterial und Aufkleber besorgen. Er hat es in seinem Büro verpackt und selbst zur Post gebracht. Ich habe das 124
Päckchen nicht mehr gesehen. Das war Dienstagnachmittag …
Am Mittwoch war er nicht besonders gesprächig, vielleicht sogar geistesabwesend. Am Abend bin ich gegangen –«
Sie kämpfte mit ihren Gefühlen und sah hinaus auf die vom Regen verwischte Straße. »Am nächsten Tag habe ich ihn gefunden …«
Polly nickte tröstend und tätschelte ihre Hand.
Nora klopfte fordernd mit dem Finger auf die Tischplatte. »Ich will wissen, wem er das Dokument geschickt hat – was es auch sein mag. Es muss der Grund für den Mord sein … seine Verbindung zu Bill Davis. Ich dachte, er hätte es Ihnen geschickt. Sie sollten es begutachten, das weiß ich.« Sie schaute Chandler forschend an – keine Spur graue Maus oder alte Jungfer, wie er zunächst erwartet hatte; eher eine Frau, mit der nicht gut Kirschen essen war, falls man sie zur Gegnerin hatte.
»Nein, tut mir leid«, sagte er. »Bis gestern habe ich nichts bekommen.«
»Aber sonst fällt mir keiner ein. Ich war mir so sicher … Wem hätte er es noch schicken können? Er hat nur Ihren Namen erwähnt …«
»Warten wir’s ab«, meinte Polly. »Bei der schleppenden Postzustellung heutzutage … Das Päckchen könnte noch kommen.«
»Klar«, sagte Chandler. »Ich rufe Hugh an, er soll nachsehen.
Wissen Sie, ich muss ein paar Tage untertauchen …« Rasch fasste er die Ereignisse nach Noras Anruf zusammen. Ihn überraschte die Entschlossenheit, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete.
»Da haben wir’s«, erklärte sie. »Die Kerle meinen auch, dass es bei Ihnen zu finden ist. Und ich wette, sie haben Nat umgebracht. Sie hatten Glück gestern Abend, Professor … Hier geht etwas Teuflisches vor.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
»Klingt albern, ›etwas Teuflisches‹.«
»Irgendwas passt da nicht ins Bild.« Polly zog Nora ins 125
Vertrauen. »Es gibt noch zwei Männer, die über den Mord an Nat Bescheid wussten, bevor Sie
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