Aquila
ihn fanden.« Nach weiteren fünf Minuten kannte Nora die ganze Geschichte. Danach saßen alle drei da und starrten sich an. Sie suchten nach Erklärungen.
»Es ist wie bei einem Puzzle mit zu vielen Teilen«, meinte Chandler. »Wo bringen wir die unter?«
Polly blieb am Ball: »Sie sagten, Nat ist nach Bukarest gefahren. Nach Rumänien. Wenn er das Schriftstück
mitgenommen hat oder wenn es ihn auch nur in Gedanken stark beschäftigte, dann hat er es doch sicher herumgezeigt oder mit jemandem darüber geredet. Wer könnte das gewesen sein? Alte Freunde. Leute aus der Branche. Wir brauchen Namen. Finden wir die in einem Tagebuch? In seiner Korrespondenz? Vielleicht im Terminkalender …« Nora nickte. »Können Sie das
überprüfen? Gibt es Unterlagen?«
»Nat hat seine Korrespondenz selbst erledigt«, sagte Nora langsam. »Aber er war pedantisch. Er hat die Durchschläge aufbewahrt … Ja, ich kann nachschauen.« Sie schob ihre Tasse zurück.
»Und zwar gleich!« Sie rutschte aus der Nische und knöpfte sich den Mantel zu.
»Wir kommen mit.« Polly gab Chandler einen Schubs.
»Dann lassen Sie mich nur erst meinen Wagen holen. Wenn Sie mich vor meinem Haus absetzen würden …«
Zu dritt quetschten sie sich in den Jaguar. Chandler hatte keine freie Sicht mehr. Weil dazu noch sein rechtes Bein
eingeschlafen war, entging ihm, was als Nächstes geschah. Polly war Noras Anweisungen gefolgt und fuhr durch Seitenstraßen in ein gemütliches Wohngebiet. Aus den Augenwinkeln sah er hinter Noras Schulter weiße Holzhäuser und hohe kahle Bäume vorbeihuschen.
»Links, ungefähr in der Mitte des Straßenzugs«, hörte er Nora in ihrem ruhigen, kompetenten Ton sagen. In dem Moment schrie Polly überrascht auf- ein spitzer Schrei, wie ihn Chandler 126
nur aus einer bestimmten Sorte englischer Filmkomödien kannte.
»Heiliger!«
»Was ist denn?«, hörte er Nora sagen. »Sie sind an meinem Haus vorbeigefahren!«
»Der rote Pinto.« Polly war etwas atemlos. »Schauen Sie rein!«
Chandler registrierte ihre Aufregung, konnte aber nichts erkennen.
»Der Bandagierte!«, rief Nora aus. »Ich glaube es nicht!«
»Was, zum Kuckuck!«, rief Chandler und reckte erfolglos den Hals. » Mein Bandagierter? Er ist hier?« Ihm drehte sich der Magen um. Polly fuhr um die Ecke und gab Gas. »Meine Damen«, brüllte er, »erfahre ich, was hier los ist?«
»Ja, Colin«, erklärte Polly betont ruhig. »Es war der rote Pinto, der gleiche, den ich heute früh vor Ihrem Haus gesehen habe …
Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann mit bandagiertem Kopf, deshalb denke ich, es ist der gleiche.« Ohne zu bremsen, raste sie um eine weitere Ecke. Seltsamerweise überschlug sich der Wagen dabei nicht.
»Mein Gott, verfolgen die uns?«
»Nein. Sie haben Noras Haus beobachtet.«
»Dann fahren Sie doch langsam!«
»Sie brauchen nicht zu schreien«, meinte sie pikiert und ging vom Gas. »Es war ein Adrenalin-Reflex. Die Angst … Ich könnte schwören, dass ich einen Soundtrack gehört habe!« Sie lachte verhalten.
»Nicht zu fassen«, sagte Nora. »Die wagen sich an mein Haus!
Was erlauben sich diese Gangster!« In der Stille hörte man die drei Scheibenwischer surren. »Wie können sie sich erdreisten
…«
Ihre Stimme sank in sich zusammen.
»Sie sollten mit uns fahren«, bestimmte Polly. »Wir fahren in Nats Büro.«
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Die Polizei hatte ihre Untersuchungen beendet, aber der Schock der Tragödie war immer noch zu spüren. Als sie durch den dunklen Eingang traten, konnte man den Hauch des Verbrechens beinahe greifen. Nora machte Licht und zögerte.
Dann fasste sie sich ein Herz und führte sie in Nats Privatbüro.
Chandler wusste, dass es ihr nicht leicht fiel. Zu seiner maßlosen Überraschung bemerkte er, dass Polly seine Hand hielt. Als er sie ansah, lächelte sie.
In der Korrespondenz fand Nora genug Unterlagen, um sich ein Bild zu machen, auf wen sich der alte Mann gefreut hatte: einen Belgier, zwei Franzosen, einen Deutschen, zwei Engländer. Sie alle hatte er gebeten, den letzten Abend des Kongresses für eine Wiedersehensfeier frei zu halten. Er versprach ihnen eine Überraschung, etwas, das die Reise nach Bukarest lohnte, selbst wenn sich sonst nichts ergeben würde.
Es gab keinen Zweifel: Die sechs kannten mit Sicherheit den Inhalt des Schriftstücks.
»Diesen Teil überlassen wir Ihnen, Miss Thompson«, sagte Chandler. Die Liste mit den sechs Namen lag auf dem hochglanzpolierten alten Schreibtisch, hinter dem Nat
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