Aquila
Sie endete nicht im Keller, sondern in einem kleinen Raum mit niedriger Decke, in dem es nach Erde und Moder roch.
»Was ist das denn?« Er grummelte gegen seine Platzangst an und schob eine herabhängende Spinnwebe weg, die aber wieder zurückschwang und sein Gesicht streichelte.
»Das ist nichts anderes als ein geheimer Gang«, flüsterte sie über die Schulter nach hinten. »Ich habe ihn selbst entdeckt, als ich mal nach einem Platz für die Mülltonnen suchte. Man findet ihn nicht so schnell, weil die Tür gut eingepasst ist. Der Riegel ist im Holz versenkt, die Scharniere sind innen.« Sie blieb stehen.
»Hören Sie etwas quieken? So wie eine Ratte?«
»Nein. Ich hatte mit runterhängenden Ranken zu kämpfen.«
»Na, dann tue ich so, als hätte ich nichts gehört.« Sie richtete den Lichtkegel wieder nach vorn in die Dunkelheit. »Wir sind jetzt unter oder zwischen den Häusern der Chestnut und der Beacon Street – rechts und links von uns. Der Gang führt nach unten. Kurz vor der Querstraße kommen wir über ein paar Stufen in einen Hinterhof zwischen hohen Häusern und Garagen. Ziemlich merkwürdig. Aber ich glaube nicht, dass der 148
Gang heute noch je benutzt wird.« Sie drehte sich um und ging wieder dem Lichtschein nach. »Vielleicht diente er früher einmal Lieferanten oder Bediensteten für geheime Botengänge oder zu anderen Zwecken. Egal. Uns hilft er jedenfalls aus der Klemme.«
Sie blinzelten, als sie in die Sackgasse zwischen
moosbewachsenen Steinfassaden hinaustraten, und waren dankbar für die kalte frische Luft. Der Wind in den Bäumen über ihnen brachte penetrante Feuchtigkeit mit sich. In der kleinen Straße herrschte wenig Verkehr. Rasch überquerten sie die Beacon Street in Richtung Grünanlage und eilten über den Wiesenhang. Unten blieben sie außer Atem stehen. Das große Kneippbecken lag leer und betongrau zwischen den hügeligen Grünflächen des Golfplatzes. Sie suchten unter einem riesigen Baum Schutz und blickten ängstlich zum Hügel hinauf.
Natürlich war der rote Pinto nicht zu sehen.
»Sie treffen also Nora im Parker House«, keuchte er, »ich treffe Hugh und hole Sie vor dem Faneuil-Blumenstand ab, an der Ecke …«
»Ja, ja.« Sie fasste ihn am Arm. »Seien Sie vorsichtig. Die Kerle sind überall.« Im Grau des Nachmittags erschien ihm die Iris ihrer Augen riesengroß und fast schwarz. Sie drückte seinen Arm und lächelte krampfhaft.
»Keine Sorge. Suchen Sie Schutz in der Menge, wenn Sie zum Hotel gehen. Und nehmen Sie sich ein Taxi zur Faneuil Hall.
Lassen Sie sich mit dem Taxifahrer auf nichts ein. Geben Sie ihm fünf Dollar –«
Sie nickte. »Ich war schon mal alleine unterwegs.«
Er sah ihr nach und sagte sich dabei, dass ihr keine Gefahr drohte. In knapp zehn Minuten würde sie in Noras Zimmer sein.
Er wandte sich um, fasste die Segeltuchtasche entschlossener und schlug den Weg zum Ritz-Carlton ein – quer durch die ganze Grünanlage. Auf der gewölbten Brücke über den Froschteich kamen ihm flüchtig die Schwanenboote in den Sinn, 149
die in wenigen Wochen sanft über das stille, glasklare Wasser ziehen würden. Es war lange her, dass er mit einem solchen Boot gefahren war. Er hatte auch schon lange nicht mehr die Pärchen betrachtet, die sich am grasbewachsenen Ufer ausgestreckt hatten, oder Spaß an den Enten gehabt oder an der Farbenpracht der Blumenbeete. Die Harmlosigkeit eines solchen Nachmittags unterschied sich beängstigend von der Gegenwart.
Polly würde Freude daran haben, da war er sich sicher.
Vor ihm erhob sich die gigantische Reiterstatue von George Washington.
»George, mein Alter«, sagte er, »was ist nur aus deinem Land geworden?« Er sah hinauf in das edle, entschlossene Gesicht der Person, die einst Weitblick besessen hatte, aber nun für immer und ewig blind war. Die Statue hatte Wasserflecken. Er schien der Einzige zu sein, der George bemerkte – und mit Sicherheit der einzige Fußgänger, der mit ihm redete. Auf seiner Rolex war es zehn vor vier. Vierzig Minuten bis zum vereinbarten Treffen mit Hugh.
»George«, sagte er, »ich tue mein Bestes.«
Er überquerte die Arlington Street und beschloss, sich am Ritz-Carlton nicht in die Warteschlange für ein Taxi einzureihen, sondern kämpfte sich gegen den Wind über die Newberry Street bis zur Ecke Boylston durch. Pech gehabt!
Dann lief er die Boylston Street entlang, ging an der Trinity Church auf die andere Seite und wurde fast umgeweht von dem scharfen Wind, der über
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