ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
ja. Aber er hat außerdem herausgefunden, wie er sie überhaupt erst erschaffen kann – es stand in dem gleichen Buch« – wie beiläufig griff Wolf in ein Regal neben Myrs Kopf und zog einen dünnen, schäbigen Buchband heraus –, »dieses Buch, um genau zu sein. In seiner Ausgabe ist allerdings nur noch die erste Hälfte erhalten.«
»Deshalb habt ihr die Gräber der beiden Unglücklichen, die Edom umgebracht hat, mit einem Zauber belegt«, konstatierte Myr.
Wolf nickte. Er stellte das Buch zurück ins Regal. »Die Runen, die Aralorn über den Leichnamen nachgezeichnet hat, und die Tatsache, dass Edom das Ritual nicht vollendet hatte – das Herz muss verzehrt worden sein – sollten gewährleisten, dass sie in Frieden ruhen. Ich wollte nur kein Risiko eingehen.«
»Einer von ihnen war Talor«, setzte Aralorn Wolf in Kenntnis. »Ich wollte an jenem Tag gerade zum Lager umkehren, als ich Talors Pfeifsignal hörte.«
»Er lag schon immer leicht neben dem Ton«, sagte Wolf.
»Ich dachte, er wäre von den Uriah gefangen worden und bräuchte Hilfe.« Wenngleich ihre Stimme auch ruhig war, umfassten ihre unruhigen Hände die Decke doch so fest, dass weiß die Knöchel hervortraten. »Ich schätze, dass das auch mehr oder weniger der Fall war, aber es gab für mich keine Möglichkeit mehr, ihm zu helfen.«
Es war nicht nur Talor gewesen, wurde ihr in diesem Moment klar. Sie hatte die anderen zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht richtig wahrgenommen – oder war von dem Schlag auf den Kopf zu benommen gewesen, um bewusst zu realisieren, was sie gesehen hatte: die Gesichtszüge von Freunden in den Fratzen der Uriah.
Ein heftiges Brennen auf der Wange ließ sie wieder erzittern und nach Luft ringen. Wolf saß neben ihr auf dem Sofa, und sie vergrub ihren Kopf in seiner Schulter, gab sich ihrem tränenlosen Beben hin, dankbar für die starken Arme, mit denen er sie umschlang.
»Er hat mich ebenfalls erkannt«, flüsterte sie. »Er war immer noch Talor, aber er war einer von ihnen . Er hat mit mir geredet, klang genauso wie er – aber dabei hat er mich angesehen, wie ein Feldarbeiter nach einem harten Tagewerk sein Abendbrot ansieht. Ich hab nicht mal gewusst, dass Uriah in der Lage sind, zu sprechen.«
Dann, mit einiger Mühe, weil sie nicht viel Übung darin hatte, begann sie zu weinen.
Myr nahm Wolfs Mantel und verhüllte, wo die Decke verrutscht war, ihren nackten Rücken. Ein wenig unbeholfen berührte er ihr Haar und sagte leise zu Wolf: »Wenn sie sich wieder gefangen hat, legt sie auf meine Anwesenheit bestimmt keinen Wert. Ich werd den anderen Bescheid sagen, dass sie wohlauf ist. Stanis gibt sich an ihrer Gefangennahme die Schuld – er will gar nichts mehr essen. Ihm wird ein Riesenstein vom Herzen fallen, wenn er erfährt, dass sie gerettet und heil wieder zurück ist.«
Wolf nickt und sah zu, wie der König ging. Sanft wiegte er Aralorn in seinem Arm und flüsterte ihr Worte des Trostes ins Ohr. Er war so sehr auf sie konzentriert, dass ihn die Stimme völlig überraschte.
»Sag ihr, sie soll damit aufhören.«
Alarmiert ruckte sein Kopf beim Klang der nachdrücklichen, wenngleich nicht übermäßig aufgeregten Stimme in die Höhe. Sie war maskulin und sprach mit schwerem Akzent. Überdies schien sie von überall zu kommen, andererseits war weit und breit niemand zu sehen.
»Sie soll damit aufhören, hab ich gesagt. Sie verjagt mir meine Lys, und das ertrage ich nicht. Ich hab sie hier geduldet, weil Lys sie mag – aber jetzt vertreibt sie Lys mit all diesen garstigen Dingen, die sie denkt. Sag ihr, sie soll das lassen, oder ich werde sie bitten müssen zu gehen, ganz gleich, was Lys meint.« Der Nachdruck in der Stimme war zu einem gewissen Teil Verdrießlichkeit gewichen.
Das Geräusch von jemand anderem im Raum verwirrte Aralorn, und sie löste sich von Wolfs Brust. Mit raschem Griff langte sie nach unten, klaubte ihren Waffenrock vom Boden und wischte sich damit Nase und Augen.
Auch sie blickte auf die auffallend leere Stelle am anderen Sofaende knapp unterhalb ihrer Füße. Magische Unsichtbarkeit war keine absolute Unsichtbarkeit, sondern bestand eher darin, mit den Schatten zu verschmelzen und den Blick anderer abzulenken; wenn jemand jedoch aktiv hinschaute , konnte er die unsichtbare Person durchaus erkennen. Wolf wusste, was sie versuchte – doch da war nichts am anderen Ende des Sofas.
»Kannst du ihn sehen?«, fragte sie Wolf.
Als er den Kopf schüttelte, richtete sie ihre nächste
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