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Arche Noah | Roman aus Ägypten

Arche Noah | Roman aus Ägypten

Titel: Arche Noah | Roman aus Ägypten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chalid al-Chamissi
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grösste Bescheidenheit in Verbindung mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein – all das hatte er von seinem Vater mitbekommen, der Bürgermeister von Itâi al-Barûd im Gouvernement Buhaira gewesen war. Und dieser hatte jene Eigenschaften wiederum von seinen Vorfahren, einer langen, bis weit zurück in die Geschichte reichenden Reihe von Bürgermeistern, geerbt. Murtada hatte die Lehrerfachhochschule in Damanhûr besucht und anschliessend Geisteswissenschaften in Alexandria studiert. Hochbegabt und mit unerschütterlichem Willen, begann er dort seine akademische Laufbahn. Dass er am 1. Juli 1950 geboren worden war, gab ihm das Gefühl eines inneren Gleichgewichts. Exakt in der Mitte des Jahres, in der Mitte des Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt zu haben, betrachtete er als ein Zeichen Gottes, gepriesen sei Er, ja geradezu als göttliche Aufforderung, gerecht zu sein, und zwar mit jedem Wort, das er von sich gab. Daher erwählte er die Waage zu seinem persönlichen Symbol und stellte im Büro und bei sich zuHause eine auf. Aber nie hatte er sich im öffentlichen Leben engagiert, weder politisch noch kulturell. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Wissenschaft. So hatte er sich während des Studiums bewusst von den Avantgardisten ferngehalten und auch sonst im Laufe seiner bewegten Vita von jeder politischen Partei.
    E s ist schon seltsam mit mir. Für öffentliche Belange habe ich mich nie interessiert, geschweige denn begeistern können – bis ich nach England kam. Dabei hätte es doch viel näher gelegen, mich in meinem eigenen Land zu engagieren. Aber ich erfülle, wie ich immer sage, eine fest umrissene Aufgabe: ich lehre an der Universität. Und gelingt es mir, dieser Anforderung auch tatsächlich gerecht zu werden, so habe ich das höchste Ziel erreicht. Ich war immer der Ansicht, dass man Veränderungen im Kleinen beginnen sollte, bevor man sich ans Ganze wagt – insbesondere, da ich die nachfolgenden Generationen darauf vorbereite, Verantwortung zu übernehmen. Die nationalen Belange sind Sache der Politik und der Medien. Von beiden halte ich mich fern. Vereinfachte Betrachtungsweisen lehne ich ab, sie werden den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht gerecht. Ebenso wenig bin ich bereit, meine Prinzipien über Bord zu werfen, um mich auf die Schultern des hässlichen Riesen Macht heben zu lassen. Was mich aber am meisten abstösst, ist die offenkundig diabolische Allianz zwischen Politik und Medien, die einen klaren Zweck verfolgt: die Menschen mit Belanglosigkeiten vom Wesentlichen abzulenken und sie zu manipulieren, um bestimmte wirtschaftliche und politische Interessen durchzusetzen. Mit all dem habe ich nichts im Sinn.
    Wohl an die hundert wissenschaftliche Aufsätze habe ich in Fachzeitschriften publiziert, aber nicht einen einzigen Artikel ineiner Tageszeitung. Gegenüber dem Journalismus hege ich tiefen Abscheu, denn diese Zunft verkauft die Lügen der Machthabenden. Selbst die schärfsten Kritiker spielen ihre vorgeschriebene Rolle, mit der sie den wirtschaftlichen Interessen jener dienen, die auf dem goldenen Thron sitzen. Am Tag nach meiner Ankunft in England wurde ich in dieser Ansicht bestärkt. Der Zufall wollte es, dass ich in der BBC die mehrteilige Dokumentation The Power of Nightmares. The Rise of the Politics of Fear sah. Der Regisseur, Adam Curtis, bestätigte, wovon ich schon immer überzeugt war: dass die Regierenden und die Medien Lügen verbreiten und dass dieser Schwindel letztlich dazu dient, die Konten der Machthabenden zu füllen. Der Film behauptet, al-Kâida und die islamistische Terrorgefahr für die westliche Welt sei nichts als ein Mythos, erschaffen von der Politik und verbreitet von den Medien. Ein Mythos, der das Erdöl aus den arabischen Bohrlöchern zu goldenen Wasserhähnen in den Herrscherpalästen dieser Welt verwandelt.
    Nun lebe ich seit zwei Jahren in London. Der Aufenthalt hier hat meine Einstellung grundlegend verändert. Zum ersten Mal befasse ich mich auch mit öffentlichen Belangen. Heute zum Beispiel nehme ich an einer Diskussionsrunde in der Universität teil.
    W enige Monate nach der Ankunft in London, im Januar 2006, sass Doktor Murtada in seinem prachtvollen Büro. Fassungslos vor Entsetzen, las er das Fetwa, das Doktor Raschâd Hassan Chalîl, Exdekan der Fakultät für Scharia und Rechtswissenschaft an der Ashar-Universität, erlassen hatte. Laut des Rechtsgutachtens gilt eine Ehe mit sofortiger Wirkung als annulliert, wenn der

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