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Arche Noah | Roman aus Ägypten

Arche Noah | Roman aus Ägypten

Titel: Arche Noah | Roman aus Ägypten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chalid al-Chamissi
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Anblick herzlich lachen. Auch Deborah erschrak und griff unwillkürlich nach der Hand ihres Mannes. Murtada aber strahlte übers ganze Gesicht und beobachtete seinen Vater. Der alte Herr strotzte vor Kraft wie in alten Zeiten und schwang das Zepter, als sei er ein Kommandant, der seine Truppe inspizierte. Hagg Ali wollte das grösste Fest geben, das das Dorf seit Nahhâs Paschas Besuch in ihrem Haus vor über einem halben Jahrhundert gesehen hatte.
    Heute kreuze ich den Weg des Glücks, dachte Murtada bei sich, doch das ist kein Garant dafür, dass ich glücklich werde.
    A n Murtada ist irgendetwas anders. Was genau, weiss ich nicht. Ob es damit zusammenhängt, dass er eine Ausländerin geheiratet hat? Hat sich dadurch bei ihm eine gewisse Gefühlskälte eingestellt? Er ist zwar körperlich hier bei uns, aber er wirkt abwesend. Na ja, vielleicht kann er es einfach nur nicht glauben, dass er jetzt mit fast sechzig noch Vater wird. Oder bilde ich mir das alles nur ein, weil ich befürchte, dass er mir nicht helfen kann?
    Ich habe Angst, dass er wieder abreist, bevor ich Gelegenheit habe, ihm zu sagen, was mir auf der Seele brennt. Aber er muss mir doch helfen, schliesslich ist er mein grosser Cousin!
    Ich erzähle ihm einfach, was mir passiert ist. Vielleicht erweicht das ja sein Herz. Morgen nach dem Mittagsgebet rede ich mit ihm.
    J assîn hatte haarsträubende, ja grauenerregende Dinge erlebt. Was ihm 2005 widerfahren war, haben wohl nur wenige Menschen auf der Welt durchmachen müssen.
    Angefangen hatte alles am Freitag, dem 15. Oktober 2004, um sechs Uhr, als er zusammen mit anderen Dorfbewohnern seine Cousins Abdalhalîm und Gâbir, die das Land verlassen wollten, zum Abschied an den Bahnhof im Nachbarort Itâi al-Barûd begleitete. Wie immer am Freitagmorgen war er menschenleer, Abdalhalîm und Gâbir waren die einzigen Reisenden. Alle waren bestens im Bilde über jeden Schritt, den die beiden in Vorbereitung auf diesen Tag unternommen hatten, seit sie vier Monate zuvor Achmad Abu Salâma in einem Café in Damanhûr getroffen hatten. Dafür, dass er sie nach Italien schleuste, mussten sie, so die Vereinbarung, jeweils 14 000 Pfund bezahlen – die erste Hälfte vor Antritt der Reise, die zweite, wenn sie inLibyen das Boot nach Italien bestiegen. Dank eines Darlehens der Bank für Entwicklung und Agrarkredit hatten sie das Geld zusammenbekommen.
    Tage-, ja wochenlang warteten die Daheimgebliebenen auf ein Lebenszeichen der beiden, bis Jassîn am Mittag des 1. Januar 2005 endlich den erlösenden Anruf von Abdalhalîm bekam. Sie seien, berichtete er, nach zweitägiger Fahrt über Land wohlbehalten in Tripolis angekommen. Dann seien sie mit vielen anderen in eine Stadt westlich von Tripolis weitergezogen. Nach zehn Tagen sei Abu Salâma aufgetaucht. Er habe ihnen befohlen, die Reisepässe zu zerreissen, und sie zusammen mit einem libyschen Offizier zu einem kleinen Hafen gebracht. Dort hätten sie ein marodes Boot bestiegen. Einige Hundert Meter vor der italienischen Küste seien sie mit Rettungsringen ins Meer geworfen worden. Das Rote Kreuz habe sie aus dem Wasser geborgen. Sie hätten sich, wie ihnen eingeschärft worden war, als irakische Kriegsflüchtlinge ausgegeben. Alles sei planmässig verlaufen, sie hätten sich fortgestohlen und ins Land eingeschlichen. Jetzt seien sie in Neapel und arbeiteten täglich zwei Schichten in einer Pizzeria. Die erste Schicht gehe von neun Uhr morgens bis drei Uhr am Nachmittag. Nach zwei Stunden Pause folge von fünf Uhr bis Mitternacht die zweite Schicht. Jassîn fragte nach dem, was ihn am meisten interessierte. Sie bekämen am Tag je sechzig Euro bar auf die Hand, antwortete Abdalhalîm. Und sie wohnten mit acht anderen Ägyptern aus al-Sakasîk zusammen.
    K aum hatte ich aufgelegt, schwirrte mir der Kopf. Sechzig Euro, das sind etwa 500 Pfund! Sie verdienen an einem Tag so viel wieich in zwei Monaten. In diesem Jahr werden sie mehr verdienen als ich in sechzig Jahren. Das heisst, sie verdienen in vier Jahren so viel Geld wie ich in 240 Jahren nicht.
    Ich muss auf der Stelle auch dorthin.
    J assîn al-Barûdi, 1964 geboren, schloss 1987 sein Studium der Geisteswissenschaften an der Universität Alexandria ab. 1996, also erst kurz vor dem zehnjährigen Examensjubiläum, bekam er durch Gott weiss wie viele Beziehungen eine Stelle als Sozialkundelehrer an der Märtyrer-Achmad-Mabrûk-Mittelschule. Sein Monatsgehalt von 104 Pfund wurde Ende 2004, nachdem er die vierzig

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