Archer Jeffrey
Machtverhältnis bestimmen. Genauere Analysen der Meinungsumfragen ergaben, daß Andrew Fraser der beliebteste politische Führer des Landes war, obwohl er im Parlament nur zweiundvierzig Abgeordnete anführte.
Andrew fuhr wieder einmal durch das ganze Land und versuchte die Wähler zu überzeugen, daß sich das politische Gleichgewicht bei den nächsten Wahlen ändern werde. Er sagte es so oft, daß er es schließlich selbst für möglich hielt, und nach zwei Siegen bei Nachwahlen Anfang 1990 begannen auch seine Anhänger daran zu glauben. Als die Allianz bei Kommunalwahlen im Mai 102 Gemeinderatssitze gewann, nahm auch die Presse derartige Behauptungen ernst.
»Daddy, Daddy, mach meine Schulnachrichten auf.«
Charles ließ die Morgenpost ungeöffnet liegen und nahm
Harry in die Arme. Er wußte, das jetzt nichts mehr diese enge Bindung stören würde, fürchtete jedoch, Harry könnte herausfinden, daß er vielleicht nicht sein Vater war.
»Bitte öffne den Brief«, flehte Harry und löste sich aus der Umarmung.
Man hatte den Schularzt gebeten, Harry und sechs anderen Jungen seiner Klasse eine Blutprobe abzunehmen, damit er diese Prozedur nicht als ungewöhnlich empfand. Nicht einmal der Arzt wußte über die Bedeutung dieser Aktion Bescheid.
Harry zog den Umschlag zwischen den anderen Briefen hervor
– jenen mit dem Schulwappen in der linken unteren Ecke – und hielt ihn seinem Vater hin. Er schien sehr aufgeregt und konnte sich kaum beherrschen. Charles hatte seinem Bruder versprochen anzurufen, sobald er das Resultat der Blutprobe in Händen hatte. Während der letzten Woche wollte er immer wieder den Arzt anrufen, hatte sich jedoch zurückgehalten, um nicht die Neugierde des Mannes zu wecken.
»Komm, Daddy, lies die Nachrichten. Du wirst sehen, es ist wahr.«
Charles öffnete den Umschlag und nahm das kleine Buch mit den Schulnoten heraus. Er überflog die Zeilen – Latein, Englisch, Geschichte, Geographie, Religion, Klassenlehrer, Direktor. Auf der letzten Seite stand: Ärztlicher Befund: Harry Seymour, elf Jahre, einen Meter vierzig groß – plötzlich ist er gewachsen, dachte Charles –, Gewicht fünfundfünzig Kilo. Er sah Harry an, der vor Aufregung fast zu platzen schien.
»Es ist richtig, nicht wahr, Daddy?«
Charles las weiter, ohne die Frage zu beantworten. Am Fuß der Seite war eine vom Schularzt unterschriebene Notiz: Charles las sie zweimal und dann ein drittesmal, bevor er die volle Bedeutung erfaßte. »Wie verlangt, nahm ich eine Blutprobe ab. Der Befund zeigt, daß Harry eine sehr seltene Blutgruppe hat..«
»Ist es wahr, Dad?«, fragte Harry wieder.
»Ja, mein Sohn, es ist wahr.«
»Ich hab es dir gesagt, Dad – ich wußte, ich werde Klassenbester. Das heißt, daß ich im nächsten Semester Schulsprecher werde. Genau wie du.«
»Genau wie ich«, wiederholte Charles und wählte die Nummer seines Bruders in Somerset.
Als sich der Premier einer kleinen Operation unterziehen mußte, stellte die Presse sofort Vermutungen über seinen Rücktritt an; als er nach zehn Tagen besser aussehend als je zuvor aus dem Krankenhaus entlassen wurde, verstummten die Gerüchte wieder. Als Stellvertreter des Premiers führte Raymond den Vorsitz bei Kabinettssitzungen. Wie Wahrsager im alten Rom erklärten die politischen Korrespondenten, Raymond sei primus inter pares.
Raymond machte es Freude, dem Kabinett vorzustehen, er war jedoch überrascht, als seine Beamten ihm rieten, sich sowohl Dienstags wie Donnerstags auf die Anfragen an den Premierminister vorzubereiten.
Simon Kerslake und Andrew Fraser hatten sich im Laufe vieler Fragestunden einen ausgezeichneten Ruf erworben, und Raymond fand diese Viertelstunde anstrengender als jede Schlußrede nach einer Debatte; rückblickend war er froh, sich so gut vorbereitet zu haben. Die Parlamentsreporter fanden einhellig, daß Raymond sich beide Male gut verteidigte und Simon Kerslake ihn vielleicht ein wenig unterschätzt hatte.
In der folgenden Woche kehrte der Premier in die Downing Street zurück, versicherte Raymond, daß die Operation erfolgreich verlaufen sei und der Chirurg einen Rückfall für unwahrscheinlich hielte. Er hoffe, vertraute er Raymond an, der Partei zu einem zweiten Wahlsieg zu verhelfen; dann aber sei er bald siebzig und wolle sich still zurückziehen. Er erklärte Raymond offen, er wünsche ihn zum Nachfolger. Raymond aber vergaß nicht, daß Neil Kinnock acht Jahre jünger war als er.
Raymond kehrte ins Finanzministerium zurück, um
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