Archer Jeffrey
Namenlisten entlangfuhr.
»Am nächsten Donnerstag kommt die Renaska, um Kohle zu laden.
Wird vermutlich Samstag wieder auslaufen. Wenn sie rasch genug
laden können, fährt sie vielleicht schon Freitag nacht und spart sich
die Kosten für einen Liegeplatz. Sie wird bei Nr. 17 anlegen.« »Danke, Ein-Zahn«, sagte Stefan, »ich will sehen, ob ich noch ein
paar meiner begüterten Geschäftsfreunde vorbeibringen kann.« Während Stefan und Wladek aus dem kleinen Zimmer auf den Kai
liefen, hob Ein-Zahn-Josef die Faust und sandte ihnen ein paar Flüche
nach.
Während der folgenden drei Tage stahlen die beiden Jungen
Lebensmittel, luden Getreide und schliefen. Als am nächsten
Donnerstag das türkische Schiff ankam, hatte Stefan seinen Freund
beinahe überredet, in Odessa zu bleiben. Aber Wladeks Angst vor den
Russen war stärker als der Reiz des neuen Lebens mit Stefan. Nebeneinander standen sie am Kai und schauten auf den
Neuankömmling, der an Liegeplatz 17 andockte.
»Wie werde ich jemals auf das Schiff kommen?« fragte Wladek. »Ganz einfach«, erwiderte Stefan. »Morgen melden wir uns zu den
Ladearbeiten. Ich arbeite hinter dir, und wenn fast die ganze Kohle
eingeladen ist, springst du hinein und versteckst dich, während ich
deinen Korb nehme und auf der anderen Seite hinuntersteige.« »Und meinen Lohn kassierst, nicht wahr?« sagte Wladek. »Natürlich«, meinte Stefan. »Schließlich muß meine überlegene
Klugheit belohnt werden. Wie sonst sollte ein Mensch seinen Glauben
an den freien Wettbewerb aufrechterhalten?«
Am nächsten Morgen schleppten sie Kohle den Laufsteg hinauf und
hinunter, bis sie beide zum Umfallen müde waren. Aber es war nicht
genug; als die Nacht einbrach, war der Laderaum kaum halb voll. Die
zwei kohlegeschwärzten Jungen schliefen sehr fest nach diesem Tag.
Am nächsten Morgen gingen sie wieder zur Arbeit, und zu Mittag, als
der Laderaum beinahe voll war, stieß Stefan an Wladeks Knöchel. »Beim nächstenmal, Moskowiter«, sagte er.
Als sie das obere Ende des Laufstegs erreichten, warf Wladek seine
Kohle hinein, ließ den Korb auf das Deck fallen, sprang in den
Laderaum und landete auf dem Kohleberg, während Stefan seinen
Korb aufnahm und pfeifend die andere Seite des Laufstegs
hinunterging.
»Leb wohl, mein Freund«, sagte er, »und viel Glück bei den
gottlosen Türken.«
Wladek preßte sich in eine Ecke des Laderaums und schaute zu, wie
neben ihm der Kohleberg wuchs. Der Staub war überall, in seiner
Nase und im Mund, in Lungen und Augen. Aus Angst, es könnte ihn jemand von der Mannschaft hören, bemühte er sich verzweifelt, nicht zu husten. Als er glaubte, die Luft im Laderaum nicht mehr ertragen zu können, und zu Stefan zurückkehren wollte, um einen anderen Fluchtweg zu ersinnen, wurden die Türen über ihm geschlossen. Er
hustete lang und ausführlich.
Kurz darauf spürte er einen Biß an seinem Knöchel. Als er
feststellte, woher der Biß stammte, wurde ihm kalt vor Entsetzen.
Kaum hatte er dem Biest ein Stück Kohle nachgeworfen, als ein
anderes herbeikam, und dann wieder eines und noch eines. Die
mutigen attackierten seine Beine. Schwarz, groß und hungrig schienen
sie aus dem Nichts aufzutauchen. Wladek stellte fest, daß Ratten
tatsächlich rote Augen haben. Er kletterte auf die Spitze des
Kohleberges und öffnete die Falltür. Sonnenlicht fiel ein, und sofort
verschwanden die Ratten in ihre Gänge zwischen der Kohle. Er
begann hinaufzuklettern, aber das Schiffe hatte sich bereits vom Kai
entfernt. Schreckensbleich ließ er sich wieder in den Laderaum fallen.
Wenn das Schiff umkehrte und Wladek auslieferte, würde das eine
Reise ohne Rückkehr ins Lager 201 und zu den Weißrussen bedeuten.
Er zog es vor, bei den schwarzen Ratten zu bleiben. Kaum hatte
Wladek die Tür geschlossen, als die Biester ihn wieder umringten.
Sosehr er auch mit Kohlestücken um sich warf, es tauchten immer
wieder andere gierige Tiere auf. Wladek mußte alle paar Minuten die
Tür öffnen, denn Licht schien das einzige, was die schwarzen Nager
vertrieb.
Zwei Tage und drei Nächte lang verteidigte sich Wladek gegen die
Ratten, ohne einen Augenblick Schlaf zu finden. Als das Schiff
endlich Konstantinopel erreichte und ein Matrose den Laderaum
öffnete, war Wladek vom Kopf bis zu den Knien mit Kohlenstaub
bedeckt, und von den Knien bis zu den Zehen mit Blut verschmiert.
Der Matrose zog ihn hinaus. Wladek versuchte, sich aufzurichten,
brach jedoch auf dem Deck zusammen.
Als Wladek - weder wußte er wo
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