Archer Jeffrey
hatte Zerimskij mit den Aasgeiern, wie er sie nannte, gestern vormittag gesprochen. Da hatten sie sich allesamt eingefunden, um seine Stimmabgabe in Koski zu verfolgen, dem Moskauer Stadtteil, in dem er geboren war. Es war nicht anders als in den USA bei einer Präsidentschaftswahl.
Zerimskij nickte zögernd und folgte Titow die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Er hatte seinen Stab angewiesen, dafür zu sorgen, daß keiner der Presseleute ins Haus gelangte, denn Zerimskij wollte der Gefahr aus dem Weg gehen, daß sie entdeckten, wie ineffizient und personell unterbesetzt seine Organisation war. Auch das würde sich ändern, sobald er die Staatskasse in die Hände bekam. Und daß dies die letzte Wahl sein würde, bei der die russischen Bürger frei abstimmen konnten - jedenfalls zu seinen Lebzeiten –, wußte nicht einmal sein Stabschef. Und es war Zerimskij völlig egal, wie viele Proteste es in der ausländischen Presse geben würde. Schon sehr bald würden diese Schmierblätter östlich von Deutschland nicht mehr zu bekommen sein
Als Zerimskij auf den Bürgersteig trat, sah er sich der größten Zusammenrottung von Journalisten seit Beginn der Wahlkampagne gegenüber.
»Wie hoch schätzen Sie Ihre Siegeschancen ein, Mr. Zerimskij?« rief ein Reporter, noch ehe der Kandidat einen guten Tag wünschen konnte.
»Wenn der Sieger der Mann ist, für den die meisten Wähler gestimmt haben, werde ich der nächste Präsident Rußlands sein.«
»Der Vorsitzende des internationalen Beobachtergremiums hat festgestellt, daß dies die demokratischste Wahl in der Geschichte Rußlands war. Was sagen Sie dazu?«
»Ich werde mich dazu äußern, sobald ich dank dieser demokratischen Wahlen zum Sieger erklärt wurde«, erwiderte Zerimskij. Die Journalisten lachten höflich.
»Falls Sie Präsident werden, wann beabsichtigen Sie einen Staatsbesuch bei Präsident Lawrence in Washington zu machen?«
Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: »Nachdem er mir einen Besuch in Moskau abgestattet hat.«
»Wenn Sie Präsident werden, was geschieht dann mit dem Mann, der auf dem Platz der Freiheit festgenommen wurde und dem zur Last gelegt wird, einen Anschlag auf Sie geplant zu haben?«
»Darüber wird das Gericht entscheiden. Aber Sie können versichert sein, daß er einen fairen Prozeß bekommt.«
Zerimskij langweilte sich plötzlich. Abrupt drehte er sich um und verschwand wieder im Haus, ohne auf die Fragen zu achten, die man ihm nachrief.
»Haben Sie Borodin einen Posten in Ihrem Kabinett angeboten?«
»Was werden Sie wegen Tschetschnya unternehmen?«
»Werden Sie als erstes gegen die Mafya vorgehen?«
Als Zerimskij müde die abgetretenen Steinstufen zum dritten Stock hinaufstieg, beschloß er, der Presse nie wieder Rede und Antwort zu stehen, egal ob er siegte oder nicht. Er beneidete Lawrence nicht, der ein Land zu regieren versuchte, in dem die Journalisten erwarteten, wie Gleichgestellte behandelt zu werden. Kaum hatte er sein Büro betreten, ließ er sich in den einzigen bequemen Sessel im Zimmer fallen und schlief zum erstenmal seit Tagen.
Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und die Zellentür schwang auf. Boltschenkow trat mit einem großen Matchbeutel und einem ramponierten ledernen Aktenkoffer ein.
»Wie Sie sehen, bin ich zurückgekehrt«, sagte der St. Petersburger Polizeichef und setzte sich Connor gegenüber. »Daraus können Sie schließen, daß ich ein weiteres inoffizielles Gespräch mit Ihnen führen mochte. Ich hoffe allerdings, daß es diesmal ein wenig fruchtbarer sein wird als beim letzten Mal.«
Boltschenkow betrachtete den Mann auf der Pritsche. Connor sah aus, als hätte er in den fünf Tagen seiner Inhaftierung einige Kilo abgenommen.
»Wie ich sehe, haben Sie sich noch nicht an unsere Nouvelle cuisine gewöhnt.« Der Polizeiche f zündete sich eine Zigarette an. »Ich muß zugeben, daß selbst das Geschmeiß von St. Petersburg für gewöhnlich ein paar Tage braucht, bis es sich an den Schlangenfraß im Kruzifix gewöhnt hat. Aber sie lernen das Essen zu würdigen, wenn sie erst eingesehen haben, daß sie den Rest ihres Lebens hierbleiben werden und daß es keine Alternative à la carte gibt.« Er sog tief an seiner Zigarette und blies den Rauch durch die Nase aus.
»Vielleicht«, fuhr er fort, »haben Sie vor kurzem gelesen, daß einer unserer Insassen einen Mitgefangenen verspeist hat. Doch angesichts der Lebensmittel- und Raumknappheit hielten wir es nicht für angebracht, großes
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