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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Elfte Gebot
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die man üblicherweise zwanzig Minuten braucht, in knapp sieben Minuten zu schaffen sei. Während der Wagenkorso die Verkehrsampeln ignorierte, durch die Straßen raste und schließlich den Fluß überquerte, widmete Zerimskij der Eremitage nicht einen Blick. Auf der anderen Seite der Newa trat der Chauffeur der vordersten Limousine aufs Gaspedal, um sicherzugehen, daß der Präsident pünktlich dem ersten von ihm befohlenen Akt staatlicher Gewalt beiwohnen konnte.
    Immer noch auf seiner Pritsche liegend, hörte der Gefangene die durch den steinernen Korridor in seine Richtung marschierenden Wachen mit jedem Schritt lauter. Er fragte sich, wie viele es sein mochten. Vor seiner Zelle blieben sie stehen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Die Tür schwang auf. Wenn einem nur noch Augenblicke zu leben bleiben, bemerkt man jede Einzelheit.
    Boltschenkow führte die Wachen an. Der Verurteilte war beeindruckt, daß der Polizeichef so schnell zurückgekehrt war. Boltschenkow zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, ehe er sie dem Gefangenen anbot, doch dieser schüttelte den Kopf. Boltschenkow zuckte die Schultern und trat die Zigarette auf dem Steinboden aus; dann ging er, um den Präsidenten zu begrüßen.
    Als nächstes trat der Priester in die Zelle. Er trug eine große aufgeschlagene Bibel und leierte Worte vor sich hin, die der Gefangene nicht verstand. Dem Priester folgten drei Männer, die der Delinquent sofort erkannte. Diesmal jedoch hatten sie weder Rasiermesser noch eine Spritze bei sich, lediglich Handschellen. Sie starrten ihn an, beinahe so, als wollten sie ihn herausfordern, sich zur Wehr zu setzen, doch zu ihrer Enttäuschung legte der Delinquent scheinbar gelassen die Hände auf dem Rücken zusammen und wartete. Sie ließen die Handschellen zuklicken und stießen ihn aus der Zelle auf den Korridor. Am Ende dieses langen düsteren Tunnels konnte er einen Hauch von Sonne erspähen.
    Der Präsident stieg aus seiner Limousine und wurde vom Polizeichef willkommen geheißen. Belustigt erinnerte er sich, daß er Boltschenkow am selben Tag den Lenin-Orden verliehen hatte, an dem er die Verhaftung seines Bruders befahl.
    Boltschenkow führte Zerimskij auf den Hof, wo die Hinrichtung stattfinden würde. Niemand erbot sich, dem Präsidenten an einem so bitterkalten Morgen den pelzgefütterten Mantel oder den Hut abzunehmen. Als sie den Hof überquerten, applaudierten die Versammelten, die sich an eine Wand drückten. Dem Polizeichef entging die Ungehaltenheit Zerimskijs nicht. Der Präsident hatte damit gerechnet, daß mehr Zuschauer zur Hinrichtung jenes Mannes kommen würden, der ausgesandt worden war, ihn zu töten.
    Der Polizeichef hatte erwartet, daß die wenigen Zuschauer sich möglicherweise als Problem erweisen könnten; deshalb beugte er sich zum Präsidenten hinüber und flüsterte ihm zu: »Ich hatte die Anweisung, nur Parteimitgliedern den Zutritt zu gestatten.« Zerimskij nickte. Boltschenkow erwähnte nicht, wie schwierig es gewesen war, die Zuschauer überhaupt ins Kruzifix zu locken. Zu viele hatten die – allzu wahren – Schauergeschichten gehört, daß man nie wieder herauskam, wenn man erst einmal drin war.
    Der Polizeichef blieb vor einem prachtvollen Sessel aus dem achtzehnten Jahrhundert stehen, den Katharina die Große 1779 aus dem Nachlaß des britischen Premierministers Robert Walpole erstanden hatte. Mit ein bißchen Nachdruck hatte Boltschenkow das Möbelstuck gestern aus der Eremitage ausgeliehen. Der Präsident ließ sich in den bequemen Sessel unmittelbar vor dem neuerrichteten Galgen sinken.
    Schon nach wenigen Sekunden wurde Zerimskij ungeduldig, weil der Gefangene immer noch nicht erschien. Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen und kurz auf einem Jungen ruhen, der in Tränen ausgebrochen war, was dem Präsidenten gar nicht gefiel.
    In diesem Moment trat der Verurteilte aus dem dunklen Korridor in das blendende Morgenlicht. Der kahlrasierte, mit verkrustetem Blut bedeckte Schädel sowie die graue Gefängnismontur ließen ihn seltsam anonym aussehen. Für jemanden, der nur noch Augenblicke zu leben hatte, schien er erstaunlich gefaßt zu sein.
    Der Verurteilte starrte hinauf in die Morgensonne und fröstelte, als ein Offizier der Wache nach vorn marschierte, das Handgelenk des Delinquenten packte und die eintätowierte Nummer überprüfte: 12995. Danach wandte der Offizier sich dem Präsidenten zu und verlas das Urteil.
    Währenddessen schaute der

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