Archer, Jeffrey
kannst bei den täglichen Proben mitmachen. Aber ich muß dich warnen, Miss Tredgold war ein ausgezeichneter Dauphin.«
Edward erschien jeden Abend pünktlich um halb sechs, und obwohl Miss Tredgold mißbilligend dreinblickte, wenn der Junge dann und wann in seinen amerikanischen Akzent verfiel, war er bei der Generalprobe weitgehend vorbereitet.
Vor der Premiere schärfte Miss Tredgold den beiden ein, unter keinen Umständen ins Publikum zu schauen oder nach ihren Eltern zu suchen; man würde ihnen ihre Rollen nicht glauben. Sie erwähnte, daß Noel Coward einmal eine Vorstellung von Romeo und Julia platzen ließ, weil John Gielgud ihn angesehen habe. Florentyna war beeindruckt, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer Noel Coward oder John Gielgud waren.
Als der Vorhang sich hob, blickte Florentyna kein einziges Mal über die Rampe. Miss Tredgold fand ihr Spiel »recht brav«, und in der Pause bemerkte sie zu Florentynas Mutter, daß ihr die Szene, in der die Jungfrau allein auf der Bühne steht und mit ihren Stimmen spricht, besonders gefallen habe.
»Bewegend, absolut«, war ihr Kommentar. Als der Vorhang fiel, erhielt Florentyna stürmischen Applaus.
Edward stand hinter ihr und war erleichtert, die Angelegenheit ohne allzu viele Fehler hinter sich gebracht zu haben. Vor Aufregung glühend, entfernte Florentyna die Schminke – ihre erste Erfahrung mit Lippenstift und Puder -, zog wieder die Schuluniform an und gesellte sich zu ihrer Mutter und Miss Tredgold, die mit den anderen Eltern im Speisesaal Kaffee tranken. Verschiedene Leute gratulierten ihr, sogar der Direktor der Boys Latin School.
»Eine erstaunliche Leistung für ein Mädchen ihres Alters«, bemerkte er zu Mrs. Rosnovski. »Allerdings war die Jungfrau nur wenige Jahre älter, als sie die gesamte französische Führung herausforderte.«
»Sie mußte aber nicht etwas auswendig lernen, das jemand anderer in einer fremden Sprache geschrieben hatte«, erwiderte Zaphia und fand ihre Antwort klug.
Florentyna hörte kaum hin; ihre Blicke suchten in dem vollen Saal nach dem Vater.
»Wo ist Papa?«
»Er konnte nicht kommen.«
»Aber er hat es versprochen«, sagte Florentyna. »Er hat es versprochen.«
S ie mußte die Tränen zurückhalten, als sie plötzlich wußte, warum Miss Tredgold ihr geraten hatte, nicht hinter das Rampenlicht zu schauen.
»Du darfst nicht vergessen, Kind, daß dein Vater ein vielbeschäftigter Mann ist. Er regiert ein Imperium.«
»Das hat auch die heilige Johanna getan.«
Als Florentyna abends im Bett lag, kam Miss Tredgold, um das Licht zu löschen.
»Papa hat Mama nicht mehr lieb, nicht wahr?«
Auf eine so direkte Frage war Miss Tredgold nicht gefaßt, und sie brauchte eine Weile, um sich zu erholen.
»Ich weiß nur eines mit Bestimmtheit: beide lieben dich, mein Kind.«
»Warum kommt Papa dann nie mehr nach Hause?«
»Das weiß ich nicht, aber was immer seine Gründe sein mögen, wir müssen sehr verständnisvoll und erwachsen sein.«
Miss Tredgold strich eine Locke zurück, die über Florentynas Stirn gefallen war.
Florentyna fühlte sich überaus unerwachsen und fragte sich, ob Johanna so unglücklich gewesen war, als sie ihr geliebtes Frankreich verlor. Als Miss Tredgold leise die Tür schloß, streckte Florentyna die Hand nach Eleanors feuchter Schnauze aus. »Dich werde ich zumindest immer haben«, flüsterte sie. Eleanor kletterte auf das Bett und legte sich mit dem Blick zur Tür neben Florentyna. Ein rascher Rückzug in die Küche war angezeigt, falls Miss Tredgold nochmals erscheinen sollte.
In den Sommerferien bekam Florentyna ihren Vater nicht zu Gesicht; schon lang glaubte sie nicht mehr die Geschichten, das wachsende Hotelimperium halte den Vater von Chicago fern. Wann immer sie seinen Namen erwähnte, antwortete Zaphia mit Bitterkeit, und Florentyna wußte aus Telefongesprächen, daß sie einen Anwalt zu Rate gezogen hatte.
In der Hoffnung, das Auto des Vaters zu sehen, ging Florentyna täglich mit Eleanor auf der Michigan Avenue spazieren. An einem Mittwoch beschloß sie, diese Routine zu ändern und auf der Westseite der Avenue die Modegeschäfte zu inspizieren. Mit ihrem wöchentlichen Taschengeld von fünf Dollar hatte Florentyna schon in Gedanken ein Brautkleid und ein Ballkleid erstanden und betrachtete eben ein Fünfhundert-Dollar-Abendkleid an der Ecke der Oak Street, als sie im Schaufenster das Spiegelbild ihres Vaters sah. Beglückt drehte sie sich um und sah ihn auf der anderen
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