Archer, Jeffrey
Brücken bauen. Wisch die Tränen ab, wir wollen keine Zeit verlieren. Hol Bleistift und Papier, Kind.«
Ohne auch nur einmal zu widersprechen, schrieb Florentyna nieder, was Miss Tredgold ihr diktierte. Am selben Abend schrieb sie einen langen Brief an ihren Vater, an Miss Parker (und legte einen Brief an Jessie Kovats bei), an Edward Winchester und schließlich –
dieser Name stand nicht auf der Liste – an Miss Tredgold.
Am folgenden Tag ging sie zur Beichte. In der Schule half sie der neuen Sekretärin bei den ersten Protokollen und zeigte ihr, wie man sie am besten schrieb. Sie gratulierte dem neuen Präsidenten und versprach ihm und dem Schülerrat zu helfen, wenn man sie brauchen sollte.
Während der nächsten Woche beantwortete sie alle Fragen der neuen Schülerräte, ohne ein einziges Mal jemanden zu belehren. Als sie Edward ein paar Tage später auf dem Korridor traf, sagte er ihr, der Rat habe dafür gestimmt, ihr alle Privilegien zu belassen. Miss Tredgold riet ihr, das Angebot höflich anzunehmen, es aber nie zu nutzen.
Florentyna legte alle Blusen aus New York in die unterste Schublade und schloß sie ab.
Ein paar Tage später ließ die Direktorin sie zu sich rufen.
Ihr Wohlwollen wiederzugewinnen, wird lange dauern, auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, dachte Florentyna. Als Florentyna die Direktion betrat, schenkte ihr die kleine, tadellos gekleidete Dame ein freundliches Lächeln und wies auf einen Stuhl.
»Das Wahlresultat muß dich sehr enttäuscht haben.«
»Ja, Miss Allen«, erwiderte Florentyna und machte sich auf eine Strafpredigt gefaßt.
»Aber bestimmt hast du aus dieser Erfahrung gelernt und wirst deine Fehler gutmachen wollen.«
»Es ist zu spät, Miss Allen. Nach diesem Semester verlasse ich die Schule und kann nicht mehr Präsidentin werden.«
»Richtig. So müssen wir uns eben neue Ziele setzen.
Nach fünfundzwanzig Jahren als Direktorin ziehe ich mich zu Jahresende zurück und muß sagen, daß es kaum etwas gibt, das ich noch erreichen möchte. Die Mädchen und Jungen der Latin School werden scharenweise in Harvard, Yale, Radcliffe und Smith aufgenommen; wir waren immer die beste Schule in Illinois und können uns mit jeder Schule der Ostküste messen. Nur etwas konnte ich nie erreichen.«
»Was ist das, Miss Allen?«
»Die Jungen haben alle bedeutenden Stipendien der Spitzen-Universitäten gewonnen, aber in den fünfundzwanzig Jahren hat kein Mädchen je das James-Adams-Woolson-Stipendium für klassische Studien in Radcliffe bekommen. Ich möchte dich für dieses Stipendium nominieren, Florentyna. Solltest du den Preis bekommen, ist mein größter Wunsch erfüllt.«
»Ich würde es gern versuchen«, stammelte Florentyna,
»aber meine letzten Leistungen…«
»Ja«, sagte die Direktorin, »aber wie Mrs. Churchill richtig sagte, als Winston bei einer Wahl geschlagen wurde: ›Das mag sich noch als verkappter Segen erweisen.‹«
»Sehr verkappt.«
Beide lächelten.
Abends studierte Florentyna das Anmeldeformular für den Adams-Woolson-Preis. Jedes Mädchen, das am 1. Juli zwischen sechzehn und achtzehn Jahren alt war, konnte sich melden und mußte drei Arbeiten schreiben: eine in Latein, eine in Griechisch und eine über Gegenwartsfragen.
Während der folgenden Wochen sprach Florentyna mit Miss Tredgold vor dem Frühstück ausschließlich griechisch und lateinisch, und jedes Wochenende gab ihr Miss Tredgold drei allgemeine Fragen auf, die sie bis zum Montag schriftlich beantwortete. Als die Prüfung näher rückte, merkte Florentyna, daß die ganze Schule ihre Hoffnungen auf sie gesetzt hatte. Sie verbrachte ihre Nächte mit Cicero, Vergil, Plato und Aristoteles, und jeden Vormittag, nach dem Frühstück, schrieb sie fünfhundert Worte über Themen wie die Bedeutung von Trumans Macht über den Kongreß während des Korea-Krieges; sie stellte sogar Hypothesen über die Wirkung des Fernsehens auf, wenn es sich einmal im ganzen Land durchgesetzt haben würde. Am Abend korrigierte Miss Tredgold Florentynas Arbeiten und fügte Fußnoten und Kommentare hinzu, bevor sie beide todmüde ins Bett fielen, um am nächsten Morgen um halb sieben weitere Fragen aus alten Prüfungsarbeiten zu bearbeiten. Anstatt selbstsicherer zu werden, vertraute Florentyna ihrer Erzieherin an, daß sie mit jedem Tag mehr Angst habe.
Das Examen sollte Ende März in Radcliffe stattfinden, und am Vorabend des bewußten Tages öffnete Florentyna die unterste Schublade und nahm ihre
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