Arglist: Roman (German Edition)
und einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Die Eingangshalle, so groß wie eine Gefängniszelle, hatte eine käsig weiße Decke, und auf dem Boden lag vergilbtes Linoleum. Der Flur war lang und schwach beleuchtet. Als Decker die Wohnung E gefunden hatte, klopfte er an die Tür. Er hörte elektronische Geräusche im Hintergrund. Ein fettleibiger Mann öffnete, und der laute Fernseher dröhnte in Deckers Ohren.
»Mr. Goldberg?«
Die braunen Augen des Mannes sahen völlig leblos aus, und er zwinkerte die ganze Zeit. Seine Gesichtszüge wirkten schmal, seine Haut war schweinchenrosa und babyzart. Er trug herabhängende Hosen ohne Gürtel und ein Flanellhemd, dazu Hausschuhe. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Detective Lieutenant Decker vom LAPD, aber ich bin auch ein Freund von Liam O’Dell. Er hat mir Ihre Adresse gegeben. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten.«
Goldberg sah ihn regungslos an. Decker erkannte sofort, dass er ihm zu viele Informationen auf einmal gegeben hatte. Er fing noch mal neu an. »Ich bin ein Freund von Liam.«
»Oh...« Zwinker, zwinker, zwinker. »Gut.«
»Kann ich hineinkommen?«
»Klar.«
Aber Goldberg trat nicht zur Seite. Also schlängelte Decker sich an ihm vorbei. »Darf ich den Fernseher leiser stellen?«
»Klar.«
Decker bemerkte, dass die Hände des Mannes zitterten, und er fragte sich selbst, warum er eigentlich hergekommen war. Was hoffte er, hier zu erfahren? Er sah sich um und war erstaunt, dass die Wohnung frei von Müll und Dreck war. Auf einer reichlich mitgenommenen Kommode stand ein Fernseher mit Flachbildschirm, dem Ensemble gegenüber ein durchgesessenes Sofa. Mehrere Tabletts fürs TV-Dinner lehnten zusammengeklappt an der Wand. Das Studio hatte noch einen Kühlschrank und eine Kochplatte. Es roch nicht gerade überwältigend, aber auch nicht gammelig. Er sagte Goldberg, er könne sich setzen, falls er wolle.
»Mein Bruder ist Arzt«, sagte Mudd.
Decker nickte. »Tatsächlich.«
»Lungenarzt.«
»Schau an.«
»Ich habe mal geraucht. Jetzt nicht mehr.«
»Das finde ich gut.«
»Mein Bruder hat mir geholfen aufzuhören. Er ist Lungenarzt.«
»Scheint ein netter Kerl zu sein.«
»Er ist ein guter Bruder. Er ist Arzt.«
Decker nickte. »Hat Sie Ihr Freund Liam mal besucht?«
»Nennen Sie mich Mudd. Jeder nennt mich Mudd. Sogar mein Bruder. Er ist Arzt.«
»Okay, Mudd, hat Ihr Freund Liam Sie mal besucht?«
»Ja, hat er. Liam ist ein guter Freund. Er kauft mir Sachen.«
»Was denn für Sachen?«
»Er kaufte mir das da...« Mudd zeigte auf den Fernseher. »Mein alter war scheiße, das hat Liam gesagt. Er war scheiße.«
»Also hat Liam Ihnen einen neuen gekauft?«
»Ja, Sir.«
Mudd stand immer noch. »Setzen Sie sich doch«, sagte Decker.
Die Aufforderung verwirrte ihn für einen Augenblick. Mudd zwinkerte bis zu dem Moment, als er Nein sagte. »Ist gut so. Tut gut, zu stehen und rumzulaufen. Sonst kriegt man Blutgerinnsel in den Beinen. Hat mein Bruder gesagt, der ist Arzt.«
»Da hat er recht.« Decker musste sich beherrschen, nicht laut zu seufzen. »Spielen Sie noch Gitarre, Mudd?«
»O ja.« Er lächelte breit. »Ich spiele noch Gitarre. Aber ich darf nicht laut spielen. Es stört meine Nachbarn. Ich darf meine Nachbarn nicht stören.«
»Haben Sie eine Akustik-Gitarre?«
»Ich habe eine Martin. Wollen Sie sie sehen?«
»Bitte.«
Mudd ging in die Kochnische und brachte etwas mit, das in eine Decke gehüllt war. Dann nahm er die Decke vorsichtig ab und präsentierte seinem Gast eine Martin Dreadnought. Decker war kein Gitarrenspezialist, aber sein Sohn Jake interessierte sich leidenschaftlich dafür. Diese hier war in tadellosem Zustand. »Darf ich sie mir kurz ansehen?«
Ohne zu zögern, reichte er sie Decker, der auf das Label sah und sich die Seriennummer einprägte. Er gab sie Mudd zurück. »Spielen Sie mir etwas vor?«
Auf dem Gesicht des korpulenten Mannes breitete sich ein Lächeln aus. »Ja, gerne.« Er setzte sich auf das Sofa und griff ein paar Riffs. Innerhalb weniger Minuten spielte er wie der Profi, von dem Liam gesprochen hatte. Die Verwandlung war übernatürlich. Die ganze Anspannung in seinem Gesicht löste sich, und sein nervöser Tick war einfach verschwunden. Decker hörte ihm eine gute Stunde wortlos zu. Dann wusste er, dass er gehen musste.
»Das war wunderschön, Mudd.«
»Soll ich noch was spielen?«
»Oh, klar, aber ich muss jetzt gehen. Ich muss wieder arbeiten.«
Mudd
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