Argus #5
der Hurrikan sie tatsächlich mit voller Wucht träfe, so wie es all die Nachrichtensendungen verhießen. Sie wollte die Verwüstung – die umgekippten Autos, die weggerissenen Dächer, die abgeknickten Bäume und Straßenschilder – sicher und geborgen von ihrem Kinderzimmerfenster aus beobachten, denn das Haus ihrer Familie würde natürlich unversehrt bleiben. Als sie ihrer Mutter gegenüber die Bemerkung machte, dass der Hurrikan ein Riesenspaß werden würde, zog Lena ihr den Holzkochlöffel, mit dem sie gerade die Marinara gekostet hatte, über den Hinterkopf. Kochend heiße Tomatensoße spritzte nach allen Seiten, sprenkelte den Boden, die Küchenschränke und die weißen Wände. Ihr Vater, der das Geschrei hörte und angerannt kam, dachte sogar, Daria habe ein Loch im Kopf, als er sah, wie ihr die glühend heiße rote Flüssigkeit über Wangen und Hals lief. Als er hörte, was passiert war, schob er den Vorfall auf die Anspannung wegen des Hurrikans, was zwar die vielen anderen Prügelszenen, die er über die Jahre mitangesehen hatte, nicht erklärte, aber immerhin dafür sorgte, dass er und seine immer noch hysterische Frau sich für den Moment besser fühlten. Daria erinnerte sich, dass ihre Brüder in der Küchentür standen, während sie selbst zu erklären versuchte, weswegen ihre Mutter so ausgerastet war, und mit großen Augen zusahen, wie ihr Vater tiefgefrorene Erbsen auf Darias Brandblasen packte. Keiner der Jungs sagte ein Wort. Daria wusste, dass auch sie sich wünschten, Andrew der Hurrikan würde ihr Haus ergreifen und es unbeschadet nach Miami hineinwehen, so wie im Zauberer von Oz . Doch nach dem, was ihrer Schwester passiert war, waren sie schlau genug, ihre Phantasien nicht auszusprechen. Auf dem Herd standen schließlich noch drei weitere Töpfe mit Soße.
Neunzehn Jahre später brachte die Aussicht auf einen gewaltigen Hurrikan Daria plötzlich dazu, sich über Dinge zu sorgen, die ihr mit elf nicht in den Sinn gekommen wären. Ökonomische und ökologische Schäden. Tage, vielleicht sogar Wochen ohne Strom bei Außentemperaturen von fünfunddreißig Grad. Keine Klimaanlage, kein Kühlschrank, keine heiße Dusche, kein Herd. Und wahrscheinlich auch kein Wasser und kein Telefon. Ein grauenvolles Verkehrschaos wegen all der umgerissenen Ampeln, Straßenschilder und Bäume. Keine Restaurantbesuche. Eine Zunahme an nervtötenden Kleinstdelikten wie Plünderungen und Betrugsvergehen, die die Prozesslisten verstopfen würden. Auch die Fälle von häuslicher Gewalt würden zunehmen, weil der Druck durch den Sturm und seine verheerenden Nachwirkungen schwer auf den Familien lastete. Und dazu noch die Sorge, wie es ihrem Heim ergehen würde – ob sie in ein paar Stunden überhaupt noch eines hatte. Bis auf ihr Auto steckte ihr gesamter irdischer Besitz in dem kleinen Stadthaus. Es war eine schreckliche Vorstellung, dass das alles womöglich einfach den Federal Highway entlanggeweht werden könnte. Heute verstand Daria, warum ihre Mutter damals über den Pastatöpfen gebetet hatte, Andrew möge sie verschonen.
Gedankenverloren fasste sie sich an die Wange, wo sich die verblasste Brandnarbe des Soßenvorfalls bis heute hielt, und sah aus dem Fenster des Miami-Dade Emergency Operations Center, der Notfalleinsatzzentrale im westlichen Teil von Miami-Dade County, wo sie die nächsten zwanzig oder mehr Stunden verbringen würde. Das Einsatzzentrum war dafür ausgelegt, Hurrikans mit Geschwindigkeiten von über 200 Stundenkilometern standzuhalten, und sollte diversen Polizeidienststellen während des Sturms als Kommandozentrale dienen. Unten erwartete eine Schwadron aus Sanitätern, Fahrdienstleitern, Polizisten und technischen Einsatzkräften den Zorn von Artemis. Daria sollte mit zwei weiteren Kollegen von der Staatsanwaltschaft den Polizisten und Richtern zur Seite stehen und bei den vielen Verbrechen, die der geschwächten Großstadt nach dem Sturm blühten, die juristische Beratung liefern. Der Großteil der bunt zusammengewürfelten Truppe, allen voran die Anwälte, war weniger von Nächstenliebe motiviert als vielmehr heimatlos. Auch Daria hätte nur zu ihren Eltern gekonnt, wo bereits Anthony in seinem alten Kinderzimmer untergeschlüpft war, weil er am Strand von Pompano wohnte, oder in Marcos Einfamilien-Irrenhaus in Coral Springs. Und weder das eine noch das andere kam ernsthaft in Frage.
Weil Daria östlich von der US 1 wohnte – dem Nordsüd-Highway, der sich in Florida die ganze
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