Argus #5
Konserven und andere haltbare Lebensmittel verschwanden aus den Regalen. Die Schlangen vor Tankstellen und Baumärkten wurden immer länger, und die Verkaufszahlen von Taschenlampen, Batterien und Kerzen stiegen sprunghaft an. Zwischen den Menschen, die in den ungewohnt langen Schlangen standen und plauderten, herrschte eine nervös aufgekratzte, rücksichtsvolle Kameradschaft.
Doch seit diesem Morgen war alles anders.
In der Nacht hatte das National Hurricane Center eine offizielle Hurrikanwarnung für Miami ausgesprochen: Innerhalb der nächsten sechsunddreißig Stunden war mit tropensturmartigen Windstärken zu rechnen. Als Manny sich um sieben aus dem Bett wälzte, waren die Regale in den Supermärkten bereits leer, die Tankstellen hatten das Benzin rationiert oder gleich ganz zugemacht, und weder bei Home Depot noch bei Loews waren noch Sperrholzplatten, Generatoren, Wasser, Batterien, Kettensägen oder auch nur Taschenlampen zu kriegen. Und freundlich war auch keiner mehr. Die Nerven lagen blank. Das ganze County klang wie eine einzige große Baustelle. Motorsägen kreischten, Bohrer ratterten, und die Luft war erfüllt von pausenlosem, lautstarkem Hämmern.
Während die Stunden herunterzählten, die Regenwände der Küste immer näher kamen und die Reporter mit ihren Kamerateams in leuchtend gelbem Ölzeug ihre Bastionen am Strand bezogen, um von den letzten Vorbereitungen zu berichten und bis zum Erbrechen von bevorstehenden Verwüstungen zu unken, beeilte sich jeder, der die Stadt noch nicht verlassen hatte, zu verbarrikadieren, was zu verbarrikadieren war, und dann so weit wie möglich ins Landesinnere zu flüchten.
Einer von ihnen war Manny.
Er hatte sich auf die Terrasse seines Drei-Zimmer-Bungalows in Miami Shores gesetzt, um kurz zu verschnaufen und sein Wasser mit einem Bier hinunterzuspülen. Draußen waren es gefühlte hundert Grad. Wenn er nicht gewusst hätte, dass ein Riesen-Wirbelsturm im Anmarsch war, er hätte sich mit einem Sixpack an den Strand verzogen, denn der Himmel war malbuchblau. Seit zehn Uhr morgens brachte er jetzt diese verflixten Hurrikan-Schutzplatten an und hatte sich dabei bereits den Daumen durchlöchert und sich eine schöne Schnittwunde am rechten Oberschenkel zugezogen. Manny hatte ganz vergessen, wie schwer und sperrig die Metallplatten waren. Und wie viele es davon gab. Deshalb hatte er ja – wie die nicht wenigen Mitbürger, die genauso gut im Verdrängen waren – bis zur allerletzten Sekunde gewartet, um sich auf den Wirbelsturm vorzubereiten, den man seit acht Tagen bei seiner gemächlichen Atlantiküberquerung beobachten konnte. Es gab nämlich nichts Frustrierenderes, als mit kaputtem Rücken in einem stockdunklen Haus zu hocken und darauf zu warten, dass der Hurrikan endlich kam, damit die drei Monate Krankengymnastik, die man anschließend brauchte, sich auch lohnten – um dann festzustellen, dass es doch wieder ein Fehlalarm gewesen war.
Diesmal allerdings wäre es Manny sehr viel lieber gewesen, über Rückenschmerzen und einen weiteren ausgebliebenen Hurrikan zu schimpfen. Es waren nur noch ein paar Stunden, bis die ersten Regenbänder heranwirbeln und die Palmen vor seiner Haustür zu Boden drücken sollten, und es sah ganz danach aus, als würde es dieses Mal Miami erwischen. Und zwar heftig. Manny hatte den Wirbelsturm Andrew 1992 miterlebt und konnte nur hoffen, dass der aktuelle Sturm noch ein, zwei Grad nach Norden oder Süden abdrehte. Besser, er zerlegte noch einmal Homestead oder auch Palm Beach, als dass er Miami mit voller Wucht traf.
Manny leckte sich das Blut von der Daumenkuppe. Noch war es sonnig, aber nicht mehr lange. Die Sonne hatte ihren Weg hinter die Everglades bereits angetreten und färbte den Himmel zitronengelb, während sich im Osten graue Wolken über dem Atlantik türmten. Der Wind hatte aufgefrischt. Manny sah zu, wie eine heftige tropische Böe die einsame Mülltonne vor dem zwangsgeräumten Haus zwei Türen weiter umwarf und kreuz und quer über die Straße trieb. Die kräftigen, zehn Meter hohen Königspalmen warfen ihre Wedel ab wie Stripperinnen und ließen dicke Zwei-Meter-Äste in Mannys Vorgarten regnen. Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen würde – der Trailer zum nächsten Katastrophenfilm. In zwölf Stunden würde die Stadt unter Beschuss stehen. Ihre volle Wucht würde Artemis erst im Schutz der Dunkelheit entfalten, mitten in der Nacht. Echt toll, dachte Manny.
Sein Daumen blutete jetzt richtig; er
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