Argus #5
sie gewünscht, einen Fall nicht angenommen zu haben.
Doch nun war der Tag gekommen.
Ihr Angeklagter hatte sich nicht bewegt. Er hatte sich nicht gesetzt. Er stand immer noch in der Geschworenenbank, zeigte immer noch mit gefesselten Händen auf sie, ein wissendes Lächeln im Gesicht, als könnte er ihre Gedanken lesen. Als hätte er gewusst, dass sie noch einmal versuchen würde, ihn anzusehen, ihn zu brechen. Diesmal wirkte er wie der Geist der Zukunft. Er starrte sie an, als würde sie Weihnachten nicht mehr erleben. Er beobachtete sie, während sich die Tür schloss, seine schönen haselnussbraunen Augen waren auf ihre schmale, zierliche Gestalt gerichtet, bis die Tür ganz zufiel und der Richter ihn aus dem Gerichtssaal bringen ließ.
8
S ieht aus, als hätte da jemand einen heimlichen Verehrer.» Manny zog sie auf, im Tonfall eines nervigen kleinen Bruders. «Aber ich würde mir nichts drauf einbilden. Ihr neuer Freund erinnert mich irgendwie an Michael Myers. Sie wissen schon, der Geisteskranke aus Halloween . Der Typ mit der irren Maske, der die scharfe Jamie Lee Curtis eine Nacht lang jagt und nebenbei ihre Freunde in Stücke hackt …»
«Ja, ich hab’s kapiert, Detective.» Daria kehrte dem Gerichtssaal den Rücken zu und ging zur Rolltreppe. Das hastige Klicken ihrer Absätze hallte durch den menschenleeren Flur. Dass sie die Akte fallen lassen hatte, war ihr immer noch peinlich. «Der Typ ist echt unheimlich.»
«Seine Anwälte auch. Der Dicke zumindest. Was soll der Pferdeschwanz?»
«Tja.»
«Und was für ein Mann lässt sich die Nägel maniküren? Also wirklich. Glauben Sie etwa, ich hätte seine pummeligen Mädchenhände nicht gesehen, Counselor? Ich wette, der Typ hat noch keinen Tag in seinem Leben ehrlich gearbeitet. Warten Sie, klar, natürlich nicht. Er ist schließlich Anwalt. Sind doch alles Rechtsverdreher.»
«Vergessen Sie nicht, mit wem Sie reden, Detective.»
«Anwesende natürlich ausgenommen. Ich rede von Strafverteidigern.»
«Aha.»
«Wir waren gut dadrinnen, was, Counselor?», sagte Manny grinsend und winkte einigen Polizisten auf dem Flur zu, die zurückwinkten. «Wie Sonny und Cher. Was für ein Team.»
«Hm. Sonny und Cher?»
«Wissen Sie, ich erinnere mich noch, wie Varlack bei dieser Nachrichtensendung auf Channel Ten war. Juicy Joe oder wie das hieß. Der Typ war damals schon ein Sack heiße Luft. Verdammt, und die Zeit war nicht gnädig mit ihm. Hundert Jahre sind nicht spurlos an ihm vorbeigegangen», sagte Manny schmunzelnd. «Meinen Sie, er hat wirklich geglaubt, sein irrer Mandant spaziert heute hier raus, nur weil Mama und Papa mit einem großen Scheck wedeln?»
Daria stellte sich auf die Rolltreppe nach unten. «Wären Sie noch eine Sekunde später gekommen, hätte es wahrscheinlich geklappt», antwortete sie kühl.
«Oje. Sie sind sauer», antwortete Manny. Er war ihr gefolgt.
«Blitzmerker.»
«Ich bin nicht zu spät gekommen. Ich war die ganze Zeit da», erklärte er und streckte die Hand nach dem dicken Ordner aus, den sie trug. «Lassen Sie mich das nehmen. Das Ding ist schwer, und Sie sehen müde aus. Und schlecht gelaunt.»
«Hey, Manny!», rief ein Verteidiger hinter ihnen. «Kommst du heute Abend zum Spiel?»
«Heute nicht. Ich habe Karten für Samstag.»
«Wir sehen uns!», rief der Anwalt, bevor er in einem Gerichtssaal verschwand.
Manny wandte sich wieder zu ihr. «Wie gesagt, Sie sehen erschöpft aus. Geben Sie her.»
Der Mann kannte jeden, und jeder kannte ihn. Widerstandslos überließ Daria ihm den Ordner. «So ein Bockmist. Ich habe Ihnen ein Dutzend SMS geschickt. Nein, Manny.»
«Ihr Problem. Ich schreibe keine SMS. Ich hasse die Biester. Die Welt geht vor die Hunde, Counselor. Die Leute reden nicht mehr miteinander. Alle schicken nur noch diese kryptischen Nachrichten. Geben sich nicht mal die Mühe, die Scheißwörter auszuschreiben – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Ich gehöre noch zur alten Schule – rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen. So schwer ist das nicht.»
«Ich kann während einer Anhörung im Gerichtssaal nicht telefonieren.»
«Dann dürfen Sie auch keine SMS schicken.»
«Sie waren bestimmt nicht auf dem Flur.»
«War ich wohl. Dixon ist rausgekommen und hat mich geholt.»
«Sie haben unten in der Cafeteria Kaffee getrunken; ich rieche den Espresso immer noch. Lügen Sie mich nicht an.»
Manny lächelte wieder. «Sie sind echt gut. Ich berichtige mich: Ich war die ganze Zeit im Gebäude .
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