Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Straße. Es war niemand zu sehen.
»Wie geht es dir?«
»Ich arbeite daran, diese Organisation wieder zum Laufen zu kriegen. Uns wieder aufzurichten gewissermaßen«, sagte Sir William. Manchmal konnte einem sein blasierter Englandstil ganz schön auf die Nerven gehen. Trotzdem freute sich Solveigh, dass es dem Chef besser ging. Sie hätte sich keinen anderen wünschen können.
»Ich meinte eigentlich, wie es dir gesundheitlich geht«, sagte Solveigh.
»Zumindest gut genug, dass ich einen Bericht haben will«, antwortete er.
Solveigh atmete ein.
»Die Kurzfassung?«, fragte sie.
»Die Kurzfassung«, bestätigte Will Thater.
»Wir sind uns sicher, dass die ’Ndrangheta hinter dem Anschlag steckt. Die Bombe wurde von einem Mitarbeiter der Fassadenreinigung eingeschmuggelt und vermutlich in einem der Drainagerohre vom Dach aus installiert. Der Geschäftsführer soll einer der führenden Köpfe hier in Amsterdam sein.«
»Und was habt ihr unternommen?«, fragte Will.
»Ich sitze seit zwei Tagen auf dem Dach gegenüber einer Pizzeria, die angeblich die Hauptanlaufstelle für Michele Vizzone ist, den hiesigen Adlatus der Familie. Bisher Fehlanzeige.«
»Du klingst, als wäre das nicht unbedingt die beste Strategie.«
»Will, wir haben kein Personal, keine Unterstützung. Normalerweise würde ich einen Kollegen anfordern, der die Überwachung übernimmt, und mir die Fassadenreinigung vornehmen. Vielleicht arbeitet der Typ, der den Anschlag verübt hat, ja immer noch da.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, oder, Solveigh? Hast du eine Ahnung, mit wem wir es hier zu tun haben?«
»Ich weiß, dass wir der ’Ndrangheta vor zwei Jahren einen empfindlichen Schlag versetzt haben, indem wir eine ihrer Hauptkokainrouten lahmgelegt haben …«
»Die ’Ndrangheta macht vierundvierzig Milliarden Euro Umsatz im Jahr, Slang. Das sind keine Kleinkriminellen, sondern die oberen Zehntausend des organisierten Verbrechens. Sie haben beschlossen, dass wir ein lästiges Kaugummi an ihrem Schuh sind, also haben sie zugeschlagen. Wir müssen herausfinden, für welche der Familien dieser Vizzone arbeitet. Und zwar bevor wir die kleinen Fische aufschrecken.«
»Das klingt nach Krieg«, sagte Solveigh.
»Verdammt richtig, das bedeutet Krieg. Wer uns vernichten will, muss mit einem Gegenschlag rechnen. Trotzdem will ich, dass wir das unter Kontrolle behalten. Wir halten uns weiterhin an die Regeln von ELMSFEUER. Ich befürchte, ihr seid weiterhin auf euch alleine gestellt. Erinnert euch an die alten Tugenden: Täuschung, Improvisation, Kreativität. Ihr habt keine Analysten mehr im Hintergrund, unsere Infrastruktur wurde zerstört, und es wird Wochen dauern, bis ich ein neues Büro gefunden habe, in dem wir uns alle einigermaßen sicher fühlen. Bis dahin will ich, dass ihr diesen Michele Vizzone ausfindig macht. Koste es, was es wolle.«
Noch lange, nachdem Solveigh aufgelegt hatte, dachte sie über Wills Worte nach. Kreativität, Improvisation und Täuschung. Es waren die Tugenden, mit denen er damals im Nordirlandkonflikt Terrorzellen und Polizei gegeneinander ausgespielt und viele Leben gerettet hatte. Sie waren das, was aus einem einfachen Undercover-Polizisten eine Geheimdienstlegende, die aus Will Thater »Sir William, Knight Commander of the British Empire« gemacht hatten. Er hatte recht. Morgen würde sie mit Eddy darüber sprechen. Ihr blieben noch vier Stunden, bis die ersten Lieferanten für das Scala auftauchen würden.
KAPITEL 20
Iliciovca, Moldawien
Sonntag, 23. Juni 2013, 17.38 Uhr (am nächsten Tag)
Ioana war mit ihren Großeltern gekommen. Alle saßen um den Holztisch in der Mitte der Küche von Lilas Haus.
»Wann habt ihr zum letzten Mal etwas von den Kindern gehört?«, fragte Ioanas Großmutter. Lilas Großvater starrte in den Becher mit Kaffee, er rekelte sich kurz, dann formte sein Rücken wieder die schöne Kurvenfunktion.
Lila und Ioana saßen nebeneinander. Sie sahen sich oft an, um sich ihrer zu vergewissern. Sie hatten um den gemeinsamen Familienrat gebeten, um Radus Angebot zu besprechen. Lila und Ioana würden nicht ohne den Segen ihrer Familien gehen. Sie alle hatten von Mädchen gehört, die ins Ausland gingen und nie wieder auftauchten. In der Schule hingen Plakate, die davor warnten, zu Fremden ins Auto zu steigen. Aber Radu war kein Fremder, er war Ioanas Cousin. Lila und Ioana hatten zwei Nächte über nichts anderes gesprochen. Und sie waren sich einig: Sie wollten nach Bukarest. Sie
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