Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
wollten wenigstens das, was ihnen durch die abgekartete Wahl entgangen war, wenn sie schon nicht das Studium bekamen, auf das sie so gehofft hatten.
»Wann kommt denn Radu nun?«, fragte Lilas Großmutter in die Stille.
»Er ist bestimmt gleich da«, sagte Ioana. Nur Lila bemerkte ein winziges Heben der Augenbrauen, das ihr signalisierte, dass Ioana die Situation auf die Nerven ging. Ein Motorengeräusch riss sie aus ihren Gedanken. Radu fuhr mit seinem funkelnden Opel Calibra vor, einem Sportwagen aus Deutschland. Lila und Ioana dachten noch gerne an ihre gemeinsame Ausfahrt zurück, nach ihrer Niederlage beim Mittsommerfest. Radu hatte das Schiebedach geöffnet, und sie waren mit lauter Musik rüber bis nach Drochia und zurück gefahren. In seinem Auto hatte er ihnen zum ersten Mal von seinem Job bei der Agentur erzählt.
Radu bekam einen Becher mit Kaffee wie alle anderen und ein Stück Brot mit Marmelade, die Ioanas Großmutter mitgebracht hatte. Er erzählte von seiner Arbeit in Bukarest. Und den Chancen, die sich dadurch für Ioana und Lila ergaben.
»Ich arbeite bei einer Agentur, die Modefotos organisiert«, erzählte er. »Eigentlich suchen wir im Moment keine neuen Models, aber für eine frisch gebackene Vizekönigin und ihre Freundin lässt sich möglicherweise etwas einrichten.«
»Was ist das für eine Agentur?«, fragte Lilas Großmutter.
»Wir haben Büros in Mailand, in Amsterdam, in Berlin und in Bukarest. Es ist wirklich eine große Organisation, wir haben viele Aufträge aus dem Ausland.«
Radu legte einen Prospekt auf den Tisch. Auf der ersten Seite waren die Titelseiten von Modemagazinen abgebildet. Von den meisten hatte Lila noch niemals zuvor gehört, aber die »Vogue« war ihr ein Begriff.
»Ist die ›Vogue‹ eine große Zeitung?«, fragte Lila.
»Es ist die wichtigste Modezeitung der Welt«, sagte Radu. »Wenn du es bei ihr auf die Titelseite schaffst, stehen dir alle Türen offen. Und zwar weltweit.«
»Und du schaffst es, dass Ioana auf die Titelseite kommt?«, fragte ihr Großvater, ein massiger Tabakbauer, dessen Ernte seit zwei Jahren keinen Absatz mehr fand, weil die Zigarettenfabrik in Kischinau geschlossen hatte.
Radu hob beide Hände: »Das kann ich wirklich nicht versprechen«, sagte er. »Unsere Firma arbeitet regelmäßig mit der ›Vogue‹, aber auch mit vielen kleineren Zeitschriften und Fotografen. Selbst ein Shooting für ein kleines deutsches Magazin wie die ›Für Sie‹ bringt schon zweitausend Lei. Es lässt sich wirklich gut Geld damit verdienen.«
Zweitausend Lei. Das war so viel, wie ihre Mutter nicht in drei Monaten schicken konnte. Es hörte sich unglaublich an.
Lilas Großvater räusperte sich. Die Kurvenfunktion seines Rückens hatte sich zu einer Geraden versteift: »Ehrlich gesagt, Radu: Ich weiß nicht. Man liest so viel über angebliche Versprechen, und dann kommen die Mädchen fünf Jahre später zurück ohne jeden Lebensmut.«
»Natürlich gibt es schwarze Schafe, das will ich gar nicht bestreiten«, sagte Radu. »Aber ich weiß, für wen ich arbeite. Lila und Ioana wären nicht die ersten Mädchen, denen ich zu einer Karriere im Ausland verhelfe. Meine Chefin steht auch jederzeit dafür gerade. Wenn ich sie überzeugen kann, dass Ioana und Lila die Richtigen sind.«
»Das ist nicht sicher?«, fragte Ioana.
»Cousinchen«, sagte Radu. »Lass mich nur machen.«
»Also, was meint ihr?«, fragte Lila.
»Wie würde das ablaufen?«, fragte ihre Großmutter.
»Als Erstes würden wir den beiden ein Visum besorgen und eine Einladung zu unserer Firma nach Bukarest. Dann würden wir hier den Vertrag unterzeichnen, und dann könnte es losgehen.«
»Sie bekommen ein Visum?«, fragte Ioanas Großvater.
»Selbstverständlich. Wie soll das sonst möglich sein, in Bukarest als Model zu arbeiten? Ohne Visum geht das nicht.«
»Und was kostet das Visum?«, fragte Lila.
»Nichts«, sagte Radu.
»Nichts ist kostenlos!«, behauptete Lilas Großvater.
Lila dachte an die zwölf Lei für ihr Kleid.
»Wir bekommen den Vertrag und das Recht, die beiden exklusiv weltweit zu vertreten. Das Visum ist unsere Investition in die zukünftige Entwicklung der beiden. Wir erhalten fünfzig Prozent aller Einnahmen, die die beiden mit ihren Fotos erzielen.«
Radu zog zwei Ausdrucke aus der Tasche: »Damit ihr das in Ruhe durchlesen könnt, lasse ich euch schon mal zwei Verträge da.«
Auf der Titelseite war der Schriftzug der »Vogue« abgebildet und einige andere
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