Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
wir sowieso schon waren.«
»Aber wo hätte er uns denn sonst fotografieren sollen?«, fragte Ioana.
Lila seufzte: »So schlecht warst du doch in Mathe nun auch wieder nicht. Zähl doch mal eins und eins zusammen.«
Ioana griff nach ihrem Pullover.
»Erstens«, fasste Lila ihre Erkenntnisse zusammen. »In unseren Pässen steht das falsche Alter, das heißt, sie sind vermutlich gefälscht. Zweitens: In jeder neuen Stadt durften wir weniger als in der letzten. Drittens: Der Fotograf, den sie uns geschickt haben, ist gar kein Fotograf. Was, glaubst du, heißt das?«
Ioana drückte den Pullover gegen ihre Brust, obwohl es in ihrem Zimmer mindestens zwanzig Grad warm war: »Du glaubst, das ist alles ein Schwindel?«
Lila nickte: »Ein abgekartetes Spiel. Mittlerweile dürfen wir nicht einmal mehr die Wohnung verlassen, und selbst wenn, wir hätten kein Geld, keinen Pass und keine Ahnung von Deutschland.«
»Aber was ist mit Radu?«, fragte Ioana. Lila spürte, dass der Zweifel an ihrer Freundin nagte. Sie selbst hatte aufgehört, sich Illusionen hinzugeben, seit Radu sie in Bukarest abgeliefert hatte. Hatte sie überhaupt jemals daran geglaubt? Sie hatte die Risiken verdrängt angesichts der Chance für Ioana und sie. Der Chance auf ein faires Leben nach ihren Möglichkeiten.
»Vielleicht weiß Radu gar nichts darüber.« Ioana war noch nicht so weit, loszulassen, ihren gemeinsamen Traum zu beerdigen. »Vielleicht denkt er, dass wir tatsächlich Models werden, wenn wir erst einmal in Deutschland sind.«
»Ioana!« Lila hätte sie schütteln können. »Die Postkarten ohne Datum, aus einer fremden Stadt, die Fotos, das Wohnzimmer, die abgeschlossene Tür! Wach auf, Ioana!«
»Nicht so laut!«, mahnte Ioana.
»Da hast du ausnahmsweise mal recht«, flüsterte Lila. »Sie dürfen auf keinen Fall mitkriegen, dass wir sie durchschaut haben. Sag mal, weiß Radu, dass wir in der Schule Englisch hatten?«
»Ich glaube nicht, wieso?«
»Wir sollten das besser für uns behalten«, meinte Lila.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Ioana. »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Wir brauchen einen Plan«, antwortete Lila. »Und zwar einen verdammt guten.«
KAPITEL 54
München, Deutschland
Freitag, 19. Juli 2013, 9.04 Uhr (am nächsten Morgen)
Am Anfang der Sendlinger Straße kaufte Paul Regen bei Ringlers die beste Ochsensemmel der Stadt für den Fall, dass er sich bald eine Alternative zum Polizeidienst suchen musste. Er hatte nämlich für diesen Notfall einen Alternativplan in der Tasche, und der sah die Eröffnung eines Kebapladens in unmittelbarer Nachbarschaft vor. Es konnte nie schaden, die Konkurrenz im Auge zu behalten, und das Ringlers hatte es trotz seines jungen Alters zur Sandwichinstitution auf Pauls Liste gebracht.
Kauend lief er die Sendlinger hinunter, die gerade erst erwachte. Eine erstaunliche Anzahl Anzugträger strebte auf das neue Geschäftshaus in den ehemaligen Räumen der Süddeutschen Zeitung zu. Was sollte er den Profiler fragen? Thilo Gleis kam extra seinetwegen in die Löwengrube, wie das Polizeipräsidium unter Kollegen genannt wurde. Eigentlich war er längst pensioniert. Paul hatte eine Liste in der Tasche, aber es kam ihm vor, als ob eine entscheidende Frage fehlte. War es möglich, dass ein Serienmörder derart unterschiedliche Opfertypen wählen konnte? Wenn nein, käme ein Täterzyklus in Betracht? Könnten es mehrere gewesen sein, die ihre Methode teilten? Sich möglicherweise über das Internet verabredeten? Diesbezüglich hatte Paul die tollsten Geschichten gelesen. Reine Spekulation. Fragen würde er ihn trotzdem danach. Auch Anzugträger oder zumindest Büroangestellte waren unter den Opfern. Zwei Landwirte, eine Prostituierte aus Nigeria. Anzugträger wie die Hausbesetzer der SZ? Oder solche aus einem seelenlosen Hochhaus vor der Stadt? Paul verwarf den Gedanken. Er schlenderte hinter der Kaufingertor-Passage vorbei, durch die Versorgungsader der Fußgängerzone, hier wurden nachts die Waren für die großen Kaufhäuser angeliefert. Auch jetzt verkeilten sich noch Lastwagen zwischen den geparkten Autos und verstopften die Gehsteige. An einem großen Elektronikmarkt luden zwei Männer Kisten in einen Van. Paul Regen blieb stehen. Alle Lieferanten hatten ihre Waren in die Geschäfte hineingetragen. Kein einziger hinaus. Nur diese beiden. Auf einigen der Kartons waren Aufkleber angebracht: Retoure. Es handelte sich also um Sachen, die der Markt an die Unternehmen zurückschickte,
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