Aristos - Insel der Entscheidung
mit jedem Schritt stärker wurde, folgte Louisa ihm wortlos den schmalen Pfad entlang, die Augen starr auf den Boden gerichtet. Sollte er sie doch begleiten, wenn er unbedingt wollte! Ansehen würde sie ihn jedenfalls nicht dabei!
Als sie am Hotel ankamen und er stehen blieb, ging sie einfach weiter. Keiner von beiden heuchelte ein „gute Nacht“.
In ihrem Zimmer angekommen, fiel sie völlig erschöpft in ihr Bett und verbarg den Kopf unter dem Kissen. Bittere Selbstvorwürfe quälten sie, bis sie endlich in einen bleischweren, traumlosen Schlaf sank.
Wenige Stunden später schreckte sie hoch. Jemand hatte an die Tür geklopft. Schlaftrunken rollte sie sich aus dem Bett, ohne zu wissen, woher sie die Energie dafür nahm. Mit halbgeschlossenen Lidern erblickte sie die wild verstreuten, staubigen Kleidungsstücke – und die Ereignisse der letzten Nacht wurden schlagartig in ihr Gedächtnis zurückkatapultiert. Kraftlos ließ sie sich aufs Bett plumpsen. Keiner konnte jetzt ernsthaft von ihr verlangen, aufzustehen!
Sie hatte mit ihrem Ex geschlafen! Kaum dass sie ihn wiedergesehen hatte! Ausgerechnet sie, wo sie doch sonst so hohe moralische Ansprüche an sich stellte!
„Louisa?“ Die Stimme ihres Bruders klang ungeduldig. „Aufstehen! Zeit fürs Frühstück! Und ich bin am Verhungern!“
„Komme gleich“, rief sie schwach. „Geh ruhig schon mal vor.“ Mit zitternden Fingern raffte sie die herumliegenden Kleidungsstücke vom Boden und stopfte sie hastig in die hinterste Ecke ihrer Reisetasche, als wollte sie die Beweisstücke einer Straftat verstecken. Leider machte dies nicht ungeschehen, was zwischen ihr und Andreas passiert war.
Stöhnend ging sie ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel konnte sie auch nicht gerade aufheitern. Gott, sah sie furchtbar aus! Leichenblass, Augenringe bis zum Knie, wild in alle Richtungen abstehendes Haar – perfekt! Irrte sie sich, oder standen ihr die Ereignisse der letzten Nacht für jedermann sichtbar auf die Stirn geschrieben? Auch ihre leicht angeschwollenen tiefroten Lippen schienen sie zu verraten. Angewidert wandte sie sich ab und stieg unter die Dusche.
Zehn Minuten später folgte sie Jamie auf die Terrasse des Hotels, von der man eine herrliche Aussicht auf den Strand und das Meer hatte. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser und verkündete einen heißen Sommertag.
Während sie frühstückten, schmiedeten sie Pläne, wie sie den Tag verbringen wollten. Doch Louisas Gedanken schweiften pausenlos ab. Immer wieder sah sie ihn vor sich, spürte seine Arme um ihren Körper, seine Lippen auf ihren …
Stopp, rief sie sich selbst zur Ordnung. Das musste sofort wieder aufhören! Energisch hob sie das Kinn – und erblickte zu ihrer größten Verwunderung ihre Schwiegermutter, die gerade um die Ecke des Hotels bog. Heute muss mein Glückstag sein, dachte sie zynisch, während Isabella schnurstracks auf sie zumarschierte.
„ Kalimera , Louisa!“, rief sie schon von Weitem. „Guten Morgen, Jamie! Meine Güte, was bist du groß geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe!“
Ein wenig verlegen stand ihr Bruder auf, ließ zwei feuchte Wangenküsse über sich ergehen und entschuldigte sich dann schleunigst, er hätte sich mit Pietros, dem Sohn des Hotelbesitzers, verabredet, um in die Stadt zu fahren.
„Wie schnell die Jahre vergehen“, sagte Isabella kopfschüttelnd und sah Jamie wehmütig nach.
Schweigend wartete Louisa ab, was ihre Schweigermutter vorhatte. Die nahm sofort den leeren Platz am Tisch ein und blickte sie aus tiefschwarzen Augen, die ihr nur allzu bekannt vorkamen, forschend an.
„Andreas ist nicht mehr auf Aristos“, erklärte sie sanft. „Er war ganz früh am Morgen bei Nikos und hat die Insel dann mit dem Helikopter verlassen.“
5. KAPITEL
Andreas ist nicht mehr auf Aristos? Nur mit Mühe konnte Louisa einen gleichgültigen Gesichtsausdruck wahren.
„Er ist sehr böse auf mich“, erklärte Isabella. „Und nach deinem Blick zu schließen, bist du auch ziemlich sauer.“
Interessant, was ihr Blick so alles sagte! Aber immer noch besser, als würde ihre Schwiegermutter daraus schließen, sie sei verzweifelt. „Du hattest kein Recht, dich einzumischen“, bemerkte sie kühl.
„Und ob ich das hatte! Wer denn sonst, wenn nicht ich? Ihr beide wart kaum mehr als zwei Kinder, die ‚verheiratetes Ehepaar‘ gespielt haben. Ihr brauchtet einfach jemanden, der aufpasste, dass ihr vernünftige Entscheidungen trefft und ein bisschen
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