Aristos - Insel der Entscheidung
praktisch denkt.“
Vernunft! Fast hätte Louisa laut losgelacht. Wann hatten sie und Andreas jemals vernünftige Entscheidungen getroffen? Gestern Nacht auf dem Berg jedenfalls nicht. Und überhaupt, wer konnte von einer Siebzehnjährigen schon ausschließlich vernünftige Entscheidungen erwarten?
Isabella hingegen hatte immer sehr praktisch gedacht. Vor allem damals, als sie von ihr verlangt hatte, das Baby abzutreiben. Gott, sie wusste noch genau, wie sie von Weinkrämpfen geschüttelt zu Andreas gelaufen war, der sich sofort schützend vor sie und gegen seine Mutter gestellt hatte. Später dann hatte ihre Schweigermutter sogar versucht, ihr Nikos wegzunehmen. Natürlich nur, damit sie „ihre Ausbildung in England beenden könnte“. Wieder hatte Andreas sich auf ihre Seite gestellt und seine Mutter wütend in die Schranken verwiesen.
„Immerhin hatte ich dir vorgeschlagen, nur dann nach Aristos zu kommen, wenn Andreas nicht da ist.“ Richtig! Allerdings war dies in all den Jahren der einzige brauchbare Vorschlag gewesen.
„Deshalb lag es natürlich auch in meiner Verantwortung, zu entscheiden, wann mit diesem ewigen Katz-und-Maus-Spiel Schluss sein sollte.“
Langsam lehnte Louisa sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete die schlanke, gut aussehende Griechin, hinter deren weicher Fassade offensichtlich ein Herz aus Stein schlug. Was Isabella ihr wohl für praktische Vorschläge machen würde, wenn sie wüsste, dass ihr Sohn seine unwürdige Frau, von der er seit Jahren getrennt lebte, letzte Nacht erneut geschwängert haben könnte?
„Ihr beide solltet jetzt anfangen, nach vorn zu schauen“, fuhr Isabella fort, ohne zu ahnen, was im Kopf ihrer Schwiegertochter vorging. „Irgendwann ist mir klar geworden, dass keiner von euch dazu in der Lage sein wird, ehe ihr nicht vollständig mit eurer gemeinsamen Vergangenheit abgeschlossen habt.“
„Aha! Und dann hast du kurzerhand dafür gesorgt, dass Andreas und ich auf der Insel zusammentreffen.“
„Ihr musstet euch einfach begegnen, damit ihr mit eigenen Augen sehen konntet, dass nichts mehr so ist wie damals. Dass ihr nicht mehr so seid wie damals.“
Manche Dinge ändern sich nie, schoss es ihr durch den Kopf. Isabella ahnte ja nicht, wie sehr sich ihre Meinung von der ihres Sohnes unterschied!
„Wir haben dich mit der Zeit sehr lieb gewonnen“, säuselte ihre Schwiegermutter. „Und wir haben sehr mit euch beiden gelitten, als euch das Schicksal einen so schweren Schlag versetzte. Mein größter Wunsch wäre es, euch beide wieder glücklich zu sehen. Glücklich verheiratet mit einem wunderbaren Menschen, mit dem ihr wieder Kinder haben könnt, um die Wunden zu schließen, die der Verlust unseres lieben kleinen Nikos gerissen hat.“
Auf eine sehr traurige und schmerzhafte Weise stimmte Louisa dem zu. Oh, wie gern würde sie endlich wieder richtig glücklich sein! Doch wie sollte sie das anstellen, wenn der Mann, von dem sie seit Jahren loszukommen versuchte, noch immer so viel Macht über sie hatte?
„Du musst loslassen, Louisa. Es ist Zeit …“
Isabellas Tonlage ließ sie aufhorchen. „Du willst, dass ich nicht mehr auf die Insel komme. Das meinst du doch damit, oder?“
Einen Augenblick herrschte ein beklemmendes Schweigen. Schließlich stand ihre Schwiegermutter auf und kam um den Tisch zu ihr herum. „Es ist Zeit“, wiederholte sie und küsste sie sanft auf die Wange. Dann ging sie und überließ Louisa ihren Gedanken und dem nagenden Schmerz, den eine grausame Wahrheit hinterlässt.
Andreas war bereits nicht mehr auf Aristos. Damit machte er es ja wohl mehr als deutlich, dass er so schnell wie möglich Abstand von ihr haben wollte. Und nun gab seine Mutter ihr zu verstehen, dass sie in Zukunft besser nicht mehr hierherkommen sollte. Verzweifelt stützte sie den Kopf in die Hand. Dort oben auf dem Berg, der den Hafen überragte, stand eine kleine weiße Kapelle, in deren blühendem Kirchgarten seit Jahren ihr kleiner Sohn ruhte. Nur wegen Nikos kam sie jeden Sommer auf die Insel. Ein Ritual, das sie nie hinterfragt hatte. Dabei war er immer in ihrem Herzen – und näher konnte er ihr schließlich gar nicht sein …
Vielleicht sollte sie jetzt eine dieser vernünftigen Entscheidungen treffen, die Isabella ihr gepredigt hatte? Siedend heiß fiel ihr plötzlich wieder ein, dass insbesondere ihre letzte unvernünftige Entscheidung schwerwiegende Konsequenzen haben könnte. Auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass sie noch einmal
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