Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
gekennzeichnet.[ 6 ]
ÜBER WERDEN UND VERGEHEN
Diese in zwei Bücher eingeteilte, in der Gedankenführung geschlossene und in der Argumentation stringente Schrift[ 7 ] knüpft unmittelbar an den Schluss der Schrift Über den Himmel an. Im ersten Buch werden die physikalischen Vorgänge des Entstehens und Vergehens untersucht, zunächst (Kap. 1–5) die Begriffe Entstehen und Vergehen selbst in Abgrenzung gegen andere Formen der Veränderung und dann (Kap. 6–10) die materiellen Bedingungen des Entstehens überhaupt. Im zweiten Buch steht dann der Begriff der Materie im Vordergrund.
Nach der (erneuten) Ablehnung der Auffassung Anderer (Empedokles, Atomisten) wirft Aristoteles eine «erstaunliche Aporie» (I 3, 371 b 18) auf, nämlich die, ob und wie ein einfaches Werden überhaupt existiert. Wir sagen: Es gibt ein Werden. Aber alles, was existiert, hat den Charakter einer Substanz. Ist Werden eine Substanz? Dann müsste es durch Kategorien wie Qualität, Quantität usw. beschreibbar sein. Oder ist das Werden der Möglichkeit nach ein Seiendes? Aristoteles löst das Problem durch die Auffassung, dass Werden und Vergehen eng aneinander gekoppelt sind, derart, dass das Werden eines Seienden mit dem Vergehen eines anderen Seienden verbunden ist und dass in diesem Wandel von Werden und Vergehen das Werden eine «Seinssteigerung» bedeutet.[ 8 ] Werden ist also der Weg zum Seienden.
Dabei ist Werden etwas anderes als bloße Veränderung (I 4, 319 b 6–320 a 6). Veränderung findet an einer bestehenden Substanz statt, von Werden spricht man, wenn bei einer Veränderung kein wahrnehmbarer Kern fortbesteht. Aber es gibt komplizierte Verschränkungen von Werden und Wandel (Kap. I 5), so etwa beim Wachstum eines Organismus. Als Wachstum sieht Aristoteles eine Veränderung an, die nicht aus einem Stoff kommt, der einem anderen Körper innewohnt. Wachsen können nur Organismen, nicht Elemente wie Wasser und Luft und auch nicht Gegenstände. Da all diese Fragen bis in die kleinsten Einzelheiten in Auseinandersetzung mit den Theorien Anderer behandelt werden, muss angenommen werden, dass diese Art Detailarbeit in der Akademie (oder im Peripatos) auch sonst stattgefunden hat.
Die Frage nach den Ursachen von Werden und Vergehen führt zum Problem der Materie, d.h. der materiellen Bestandteile, die in Kontakt, Wechselwirkung (Tun – Leiden) und Mischung miteinander in Verbindung treten (Kap. 6–10). Deutlicher wird dies in der bedeutenden Abhandlung über die Materie (Buch II 1), die eigentlich der Erörterung des ersten Buches über die Modalitäten ihrer Wirkungsweise vorausgehen müsste.
M ATERIE
Die Bestimmung dessen, was Aristoteles unter «Materie» versteht, ist schwierig und umstritten. Das Wort, das Aristoteles für «Materie» verwendet, heißt «Hyle»[ 9 ] Es kommt von Homer an in der Literatur in der Bedeutung von «Holz», «Wald», «Reisig» vor. Noch bei Platon wird das Wort ausschließlich in dieser ursprünglichen Bedeutung verwendet. Erst in den akademischen Diskussionen zwischen Speusipp, Xenokrates und Aristoteles wird dieses Wort zu einem philosophischen Terminus. Wer von den Dreien als Erster diesen Schritt getan hat, wissen wir nicht. Der Sache nach gab es schon lange eine Diskussion über ein letztes (unterstes) Substrat, das allen Elementen zugrunde liegt. Im Weltschöpfungsmythos des platonischen Timaios ist es das ganz unbestimmt bleibende «All-Aufnehmende»pandeches, oderchora, Timaios 50 E – 52 C), dessen Bedeutung Aristoteles als unklar und inkonsequent kritisiert (De gen. et corr. II 1, 329 a 13–23). Aristoteles verwendet das Wort, das schon Cicero mit «materia» übersetzt hat, nicht im Sinne eines stofflichen Substrats, obwohl man doch bei dem Wort materia an konkretes «Material» denkt. Deutlich ist, dass die traditionellen vier Elemente nicht die letzten Einheiten sind, dass es vielmehr eine «erste Materie» (II 1, 329 a 23. 29 und öfter) geben müsse. Das Besondere der aristotelischen Theorie ist nun, dass es diese «erste Materie» nicht getrennt von den Elementen geben kann, nicht ablösbar von den Körpern, wie Aristoteles ja auch den allgemeinen Gegebenheiten wie Zeit und Bewegung keine ontologische Trennbarkeit zugesteht. Die in der Forschung umstrittene und von Aristoteles nicht eindeutig beantwortete Frage ist die, ob die «erste Materie» eine Substrateigenschaft als bloße Potentialität, ein bestimmter Körper zu sein, bedeutet, oder ob ihr eine spezifische
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