Arkadien 02 - Arkadien brennt
noch einmal und sagte ganz leise: »Zu spät.«
Das Gefängnistor fiel hinter ihr mit stählernem Klirren ins Schloss. Durch die Gitterfenster im Korridor konnte sie den Innenhof der Haftanstalt sehen, menschenleer im grellen Licht der Scheinwerfer. Oben auf den Mauern schimmerten Stacheldrahtspiralen vor dem schwarzen Himmel. Es war kurz vor zehn, die offizielle Besuchszeit war seit Stunden vorüber.
Der wortkarge Uniformierte, der sie am Nebeneingang in Empfang genommen hatte, machte keinen Hehl aus seiner Ablehnung. Er mochte sie für Gott weiß was halten – vielleicht für eine Prostituierte, die sich der Hungrige Mann ins Gefängnis bestellt hatte –, aber im Augenblick war ihr das egal.
Eine Menge hing von ihrem Auftreten ab. Trotzdem bezweifelte sie, dass der Gefangene nicht auf den ersten Blick durchschauen würde, wie angespannt sie war. In Wahrheit hatte sie eine Heidenangst vor ihm. Für die meisten Arkadier war der Hungrige Mann so viel mehr als ein capo dei capi , der seit drei Jahrzehnten eingesperrt war: Sie hielten ihn tatsächlich für den wiedergeborenen Lykaon, der sie in ein neues Zeitalter der glorreichen Barbarei führen würde.
Sie hatte ein altes Foto von ihm gesehen, schwarz-weiß und grobkörnig. Darauf war er bereits kein junger Mann mehr gewesen, mit grauen Schläfen, schulterlangem Haar und einem Vollbart; das Foto war während seiner Verhaftung in Gela gemacht worden. Seine Augen hatten in tiefem Schatten gelegen. Aber anhand seiner Mundwinkel hatte Rosa erkennen können, dass er lächelte, trotz der Polizisten, die neben ihm auf dem Foto posierten. Lächelte, als wären sie die Beute, nicht er.
Sie kannte seinen wahren Namen, aber niemand innerhalb der Dynastien benutzte ihn. Für alle war er nur der Hungrige Mann. Wenn man seinen Anhängern Glauben schenkte, so war er die Vergangenheit und Zukunft Arkadiens. Oder aber, dachte Rosa, ein größenwahnsinniger Mafiaboss, der nicht wahrhaben wollte, dass er wie zahllose andere capi der Staatsanwaltschaft ins Netz gegangen war.
Zwischen den Sicherheitsschranken hallten Rosas Schritte von den Betonwänden wider. Sie trug Stiefel mit hohen Absätzen und einen schwarzen Gehrock, was sie größer erscheinen ließ. Sogar Make-up hatte sie aufgelegt, zum ersten Mal seit der Nacht im Village. Sie wollte so erwachsen wirken wie nur möglich.
Der Wärter blieb vor einer Tür stehen, schaute prüfend nach rechts und links, dann öffnete er sie. Er machte einen Schritt beiseite und gab Rosa einen Wink. »Klopfen Sie, wenn Sie fertig sind.«
Sie betrat einen Besuchsraum, der durch eine Trennwand geteilt war. In der Mitte befand sich auf halber Höhe ein Fenster wie an einem Bankschalter. Davor stand ein weißer Plastikstuhl.
Hinter ihr wurde die Tür geschlossen. Sie war jetzt allein in ihrer Hälfte des Raumes. Nur hier brannte Licht, auf der anderen Seite der Scheibe herrschte Dunkelheit. Das Glas war getönt, die Helligkeit drang kaum hindurch. Rosa machte sich mit dem Gedanken vertraut, dass sie ihr Gegenüber nicht sehen würde, während sie selbst im Hellen auf dem Präsentierteller saß.
»Nimm Platz.«
Es war dieselbe Stimme wie am Telefon. So rau, dass Rosa schon nach den ersten Worten ein Husten erwartete – das jedoch ausblieb. Etwas stimmte nicht mit seinem Kehlkopf. Krebs vielleicht. Die Vorstellung fand sie einigermaßen erbaulich.
Rosa setzte sich. Schlug die Beine übereinander, legte die Hände verschränkt in den Schoß. Nur nicht anfangen, an irgendetwas herumzufummeln, dem Saum ihrer Jacke oder ihrem Haar.
»Ich respektiere es«, sagte er, »wenn jemand Mut beweist.« Seine Stimme kam aus einem faustgroßen Lautsprecher unterhalb der Scheibe. Rosa widerstand dem Impuls, zu blinzeln, um besser durch das Glas sehen zu können. Sie erkannte nur einen vagen Umriss. Er saß nicht, sondern stand aufrecht. Blickte reglos auf sie herab.
»Es ist nicht besonders mutig, sich hinter Panzerglas zu verstecken«, hörte sie sich sagen.
»Wie alt bist du, Rosa?«
»Achtzehn.«
»Wie alt warst du, als dein Vater gestorben ist?«
»Ist er denn gestorben?«
Er gab keine Antwort.
»Ich habe sein Grab geöffnet.« Eigentlich hatte sie die verdammte Steinplatte mit einer Spitzhacke eingeschlagen, aber das lief wohl auf dasselbe hinaus. »Der Sarg war leer.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Ich weiß nichts über meine Familie. Oder viel zu wenig. Ich dachte, ich wüsste ein paar Dinge, aber das meiste davon war keinen Cent
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