Arkadien 02 - Arkadien brennt
merkt, dass er Höhenangst hat.«
»Das killt die Karriereoptionen.«
»Aber ich will diese Karriere nicht! Ich hab nicht darum gebeten, alles zu erben. Das ist was anderes als bei dir.«
Ebendas war der Unterschied zwischen ihnen. Alessandro hatte erreicht, was er immer gewollt hatte. Sie aber hatte nie etwas gewollt, und das hier schon gar nicht. Nur ihn. Ihn schon. Sogar sehr, sehr, sehr.
Aber bei aller Differenz in dieser einen Sache war da etwas, das sie verband: Keiner versuchte, den anderen zu ändern. Vielleicht fühlte sie sich gerade deshalb so wohl bei ihm.
Über sein Gesicht legte sich Nachdenklichkeit. Appetitzügler Nummer eins: die Geschäfte. Nummer zwei: seine Familie. Ihre Gespräche litten unter demselben Auf und Ab wie ihr Sex. Mal abgesehen davon, dass ihre Gespräche zumindest stattfanden und ihr Sex nicht viel mehr war als Spekulation. Sie hatten beide ihre Vorstellungen, wie er sich anfühlen würde – wenn es denn erst dazu käme. Nett wäre: ohne Schlangenschuppen und Katzenhaare im Mund.
»Ich hab angefangen aufzuräumen«, sagte er leise. »Mit einigem von dem Dreck, den Cesare und mein Vater angehäuft haben.« Jahrzehntelang hatten die Carnevares für andere Clans die Leichen von deren Opfern beseitigt, unter dem Asphalt von Autobahnen und im Beton grauer Bauruinen. Ein einträgliches Geschäft. Alessandro war kein Heiliger, aber er pfiff auf das Geld, das sein Clan damit verdiente. Eine Meinung, die nicht alle seine Teilhaber und capodecini teilten.
Sie ergriff wieder seine Hand, zögerte kurz und hauchteihm einen raschen Kuss auf die Wange. »Damit hast du dir keine Freunde gemacht, hm?«
»Es wird immer schlimmer. Selbst die wenigen, die mich als capo akzeptiert haben, wenden sich allmählich von mir ab. Nicht offen, aber die meisten sind zu dumm, um subtil zu sein.« Er beklagte sich selten, und selbst jetzt blieb sein Blick glasklar, sein Tonfall entschlossen. »Manchmal weiß ich nicht mehr, ob es wirklich das ist, was ich gewollt habe.«
Rosa fragte sich oft, ob sein Ehrgeiz, capo zu werden, das Erbe seines Vaters anzutreten, vielleicht nur entstanden war, weil er seine Mutter rächen wollte. Nun, da Cesare tot war, wusste Alessandro nicht recht, was er mit alldem eigentlich anfangen sollte. Er hatte ein Ziel gehabt, aber als er es erreichte, war es viel größer und komplizierter, als er erwartet hatte.
»Cesare hat bekommen, was er verdient hat«, sagte sie.
»Ja, aber haben wir bekommen, was wir verdient haben?« Er hob eine Hand und streichelte ihre Wange. »Vielleicht sollte ich doch mit dir gehen. Nur für ein paar Tage woandershin, und danach vielleicht –«
»Für immer weg?« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Da kenn ich dich besser.«
»Der Gedanke, dass du am anderen Ende der Welt bist und ich hier, macht mich schon jetzt verrückt.«
Sie legte den Zeigefinger an seine Lippen und ließ ihn sanft an seinem Kinn hinabwandern. »Wie oft sehen wir uns in der Woche? Dreimal? Und selbst das nicht immer. Ich bin nur für ein paar Tage weg. Du wirst es nicht mal merken.«
»Das ist unfair.«
Natürlich war es unfair. Aber sosehr sie sich auch nach seiner Nähe sehnte, wenn er nicht im selben Raum war – und erst recht, wenn er es war –, sowenig wollte sie, dass er sie ausgerechnet heute begleitete. Nicht nach New York. Nicht zu ihrer Mutter.
»Ich könnte ein paar Besprechungen absagen«, fügte er hinzu. »Noch bin ich ihr capo , ob es ihnen gefällt oder nicht.«
»Das ist Unsinn, und das weißt du. Sie würden dich lieber heute als morgen loswerden.« Rosa hielt seinen Blick mit ihren Augen fest und bewunderte sekundenlang die Intensität dieses Grüns und den Glanz darin. »Was würden sie wohl sagen, wenn du ausgerechnet in dieser Lage mit einer Alcantara ins Ausland fliegst? In die Ferien.«
Als Zoe in ihren Armen gestorben war, hatte Rosa ihr etwas versprechen müssen. Sie würde herausfinden, in welcher Beziehung ihr toter Vater Davide zu TABULA gestanden hatte, jener mysteriösen Organisation, die im Verborgenen einen Krieg gegen die Arkadischen Dynastien führte. Pech war, dass Rosa nur ein einziger Anknüpfungspunkt einfiel, nur eine Person, die ihr mehr über ihren Vater erzählen konnte: ihre Mutter, ausgerechnet.
Rosa kannte keinen Menschen auf der Welt, dem sie weniger gern begegnen wollte. Nicht nach allem, was gewesen war. Nicht nachdem sich Gemma sogar geweigert hatte, zu Zoes Begräbnis nach Sizilien zu reisen.
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