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Arkadien 02 - Arkadien brennt

Titel: Arkadien 02 - Arkadien brennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Notizbuch zu ertasten; von Letzterem wusste sie selbst nicht so recht, weshalb sie es eigentlich mit sich herumtrug.
    Was sie für ihr Handy gehalten hatte, entpuppte sich als weiteres Buch, kleiner, dicker, mit einem brüchigen Einband. Die Fabeln des Äsop stand in winzigen Lettern auf dem Lederrücken. Sie hielt es unter ihre rote Nase, blätterte geschwind mit dem Daumen die Seiten durch und atmete tief ein. Der Geruch transportierte sie zurück auf einen sonnendurchglühten Friedhof, tief im sizilianischen Hinterland.
    Albern. Völlig kindisch. Hastig steckte sie es wieder weg, fand endlich das Handy und entdeckte, dass es während des Fluges eingeschaltet gewesen war. Der liebe Gott wollte, dass sie lebte und litt.
    Keine SMS. Keine E-Mail. Aus den Augen, aus dem Sinn.
    Sie tippte: Bin angekommen. New York im Schnee. Sehr romantisch. Sie zögerte und setzte hinzu: Blasenentzündung im Anmarsch. Kein Schlangenklima. Mistwinter. Miststadt.
    Senden. Und schon schwebte ihre sensible Liebesprosa zur anderen Seite des Atlantiks. Wo es gerade zwei Uhr nachts war. Schuldbewusst biss sie sich auf die Unterlippe. Alessandros Handy lag immer eingeschaltet neben seinem Kopfkissen.
    Es dauerte nur eine Minute, dann kam die Antwort.
    Kann nicht schlafen. Denke zu viel an dich.
    Mit hüpfendem Herzschlag tippte sie: Dabei schon verwandelt?
    Enthaltung = Enthaarung , antwortete er. Offenbar war dies die Internationale Woche der schlechten Gleichungen.
    New York minus Alessandro = noch kälter , schrieb sie zurück.
    Er antwortete: Kälte + Rosa = Schlange (besser nicht).
    Nur bei Kälte + Sex.
    Sex + City = wie im Fernsehen?
    Muss Manolos kaufen. Schlaf jetzt besser.
    Seine Reaktion ließ eine Weile auf sich warten: Rosa?
    A.?
    Halte dich in NY von Carnevares fern. Wollte ich dir schon am Flughafen sagen, aber da war deine Zunge im Weg.
    Idiot.
    Ich mein’s ernst. Meine Verwandten in NYC mögen keine Alcantaras.
    OK.
    Wirklich ernst.
    Ja-haa! Hab verstanden!
    Dann viel Spaß beim Schuhekaufen.
    Ganz sicher nicht, dachte sie. Bis später.
    Überall HAARE … Uaarrgghh!
    Sie grinste das Display an wie eine Schwachsinnige, wartete einen Augenblick länger, ob noch etwas käme, dann steckte sie das Handy ein.
    Unentschlossen blieb sie in der Gasse stehen, rieb sich die Hände warm und starrte in den Schnee rund um ihre Schuhe.
    Warum eigentlich nicht?

    Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem Taxi zum Gothic Renaissance an der 4th Avenue, kaufte schwarze Stahlkappenstiefel mit Quernaht und Acht-Loch-Schnürung, die einzigen wintertauglichen Strumpfhosen im ganzen Laden und dann, eine Ecke weiter, einen Tacker.
    Jetzt war sie angekommen.
    Der Tacker lag gut in der Hand und fasste hundert Stahlklammern, die er im Sekundentakt per Druckluft in beinahe alles und jeden hineinhämmern konnte. Nach der Vergewaltigung hatte sie sich angewöhnt, so ein Ding immer griffbereit zu haben. Warum sich mit Pfefferspray zufriedengeben, wenn man das hier in jedem Eisenwarenladen kaufen konnte?
    Sicher, mittlerweile besaß sie genug Geld, um Bodyguards anzuheuern, die sie auf Schritt und Tritt bewacht hätten. Aber allein der Gedanke daran fühlte sich so gar nicht nach ihr selbst an. Sie war nach New York gekommen, um mit ihrer Mutter zu sprechen, nicht um sich Ärger einzuhandeln. Aber das Gewicht des Tackers in ihrer Tasche vermittelte ihr Sicherheit.
    Sechzehn Monate war es her, dass Unbekannte sie auf einer Party im Village mit K.-o.-Tropfen betäubt und vergewaltigt hatten. Anschließend hatten sie Rosa bewusstlos auf der Straße abgeladen. Bis heute wusste sie nichts über das, was in jener Nacht geschehen war, und nach endlosen Beratungsgesprächen und Therapiesitzungen war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Erinnerung gar nicht zurückhaben wollte. Sie suchte nicht mehr nach verdrängten Bildern und Gedankenfetzen, nicht nach unterdrückten Gefühlen. Wenn es eines gab, für das sie dankbar war, dann der Blackout, der sie vor den Einzelheiten bewahrte, der Erinnerung an Gesichter oder Stimmen. Nicht mal körperlicher Schmerz war zurückgeblieben. Dafür die Ängste. Ihre Macken. Die zerbissenen Fingernägel, ihre Kleptomanie und lange Zeit das Gefühl, niemandem mehr trauen zu können – bis sie Alessandro begegnet war. Manchmal musste man wohl doch mit den Augen eines anderen sehen, um sich selbst besser zu verstehen.
    Aber die Vergewaltigung hatte noch weitere Spuren hinterlassen. Nathaniel. Das Kind, das sie abgetrieben hatte.

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